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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel
Autoren: Michael Pollan
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die steigende Anzahl der Herzkrankheiten im 20. Jahrhundert der Verzehr von Fett und Nahrungscholesterin verantwortlich war, die überwiegend in Fleisch- und Milchprodukten steckten. Die American Heart Association (Amerikanische Vereinigung für Herzgesundheit) hatte die sogenannte »Lipid-Hypothese« 2 bereits akzeptiert und 1961 begonnen, eine »vernünftige Ernährung« zu empfehlen, die arm an gesättigten Fetten und Cholesterin tierischer Herkunft war. Die konkreten Beweise für die Lipid-Hypothese waren 1977 zwar ausgesprochen dünn – sie war immer noch weitgehend eine Hypothese -, aber trotzdem war sie auf dem besten Weg, allgemein akzeptiert zu werden.
    Im Januar 1977 gab der Ausschuss eine ziemlich unmissverständliche Reihe von Ernährungsrichtlinien heraus und rief die Amerikaner dazu auf, den Verzehr von rotem Fleisch und Milchprodukten einzuschränken. Innerhalb weniger Wochen brach ein vor allem von der Rindfleisch- und von der Milchindustrie entfachter Feuersturm der Kritik über dem Ausschuss los, und Senator McGovern (zu dessen Wählern in South Dakota sehr viele Rinderzüchter gehörten) sah sich gezwungen, zum Rückzug zu blasen. Die Empfehlungen des Ausschusses wurden hastig umgeschrieben. Eindeutige Formulierungen zugunsten echter Lebensmittel – der Ausschuss hatte den Amerikanern geraten, »den Fleischkonsum zu reduzieren« – wurden durch einen raffinierten Kompromiss ersetzt: »Wählen Sie solche Fleisch-, Geflügel- und Fischarten, die die Aufnahme gesättigter Fette verringern.«
    Lassen wir die eventuellen Vorteile einer fleisch- und/oder fettarmen Ernährung im Moment beiseite – ich komme noch auf sie zurück – und richten wir unser Augenmerk auf die Sprache. Denn durch diese subtil veränderte Formulierung erlebte das gesamte Denken über Ernährung und Gesundheit eine folgenschwere Verschiebung. Erstens war die unverblümte Botschaft, von einem bestimmten Lebensmittel – in diesem Fall Fleisch – »weniger zu essen«, über Bord geworfen worden; in offiziellen Verlautbarungen der US-Regierung zur Ernährung taucht sie nie mehr auf. Sie können also über dieses oder jenes Lebensmittel sagen, was Sie wollen, aber offiziell dürfen Sie den Leuten nicht erzählen, sie sollten weniger von ihm essen, denn wenn Sie es tun, wird die jeweilige Branche Sie mit Haut und Haaren verschlingen. Aber es gab einen Weg um dieses unbezwingbare Hindernis herum, und McGoverns Mitarbeiter bahnten ihn: S precht nie mehr von Nahrung, nur noch von Nährstoffen. Tatsächlich sind in den überarbeiteten Richtlinien die Unterschiede zwischen so verschiedenartigen Kategorien wie Rindfleisch, Geflügel und Fisch flachgefallen. Diese drei altehrwürdigen Lebensmittel, die nicht nur für eine jeweils andere biologische Art, sondern auch für völlig verschiedene Klassen von Lebensmitteln stehen, werden jetzt als bloße Zulieferer für einen einzigen Nährstoff in einen Topf geworfen. Interessant ist auch, dass die neue Formulierung die Lebensmittel als solche von jeder Schuld freispricht. Jetzt ist der Sündenbock eine obskure, unsichtbare, geschmacklose – und politisch unverfängliche – Substanz, die in ihnen lauern kann oder auch nicht und gesättigtes Fett heißt.
    Die linguistische Kapitulation hat McGovern nicht gerettet. Bei der nächsten Wahl, 1980, schickte die Rindfleischlobby den dreimaligen Senator in die Wüste und sandte damit eine unmissverständliche Warnung an jeden, der die amerikanische Kost im Allgemeinen und den großen Batzen tierischen Proteins in der Tellermitte im Besonderen in Frage stellen würde. Von nun an würden amtliche Ernährungsrichtlinien deutliche Worte über echte Lebensmittel scheuen, die alle ihre Lobby auf dem Capitol haben, und sich stattdessen in wissenschaftlichen Euphemismen ergehen und von Nährstoffen schwafeln – Gebilden, die nur wenige Amerikaner (einschließlich der amerikanischen Ernährungswissenschaftler) wirklich verstanden, für die aber, mit der bemerkenswerten Ausnahme der Saccharose, keine einflussreichen Interessenvertretungen in Washington eintreten. 3
    Die Lektion des McGovern-Fiaskos wurde schnell von allen gelernt, die sich zur amerikanischen Ernährungsweise äußerten. Als die US-Akademie der Wissenschaften ein paar Jahre später den Fragenkomplex »Ernährung und Krebs« untersuchte, formulierte sie ihre Empfehlungen penibel Nährstoff für Nährstoff und nicht Lebensmittel für Lebensmittel, um mächtige Interessen nicht zu verletzen.
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