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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel
Autoren: Michael Pollan
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davon ausgegangen wird, dass das alles ist, was wir verstehen müssen«. Auf diesen reduktionistischen Blick auf das Essen war schon früher kritisch hingewiesen worden (insbesondere von dem kanadischen Historiker Harvey Levenstein, dem britischen Ernährungswissenschaftler Geoffrey Cannon und den amerikanischen Ernährungswissenschaftlerinnen Joan Gussow und Marion Nestle), er hatte aber noch nie einen eigenen Namen erhalten, und der war jetzt da: »Nutritionismus«. Eigennamen haben die Eigenschaft, Dinge sichtbar zu machen, die wir nicht ohne weiteres sehen oder die wir für selbstverständlich halten.
    Das Erste, was wir vom Nutritionismus wissen müssen, ist, dass er nicht das Gleiche wie Ernährung ist. Wie die Endung »-ismus« andeutet, handelt es sich nicht um einen Gegenstand der Wissenschaft, sondern um eine Ideologie. Ideologien sind Möglichkeiten, breite Lebens- und Erfahrungsbereiche anhand gemeinsamer, aber ungeprüfter Annahmen zusammenzuführen. Wegen dieser Eigenschaft ist eine Ideologie schwer zu erkennen, zumindest so lange, wie sie eine Kultur beherrscht. Eine herrschende Ideologie ist ein bisschen wie das Wetter – überall vorhanden und deshalb praktisch unausweichlich. Aber wir können zumindest versuchen, ihr zu entkommen.
    Der Nutritionismus vertritt die weithin geteilte, aber ungeprüfte Annahme, der Schlüssel zum Verständnis von Nahrung wäre der Nährstoffgehalt. Anders gesagt: Lebensmittel sind im Grunde die Summe ihrer Nährstoffkomponenten. Diese Grundvoraussetzung hat verschiedene andere Annahmen zur Folge.
    Weil Nährstoffe im Gegensatz zu Lebensmitteln unsichtbar und also ein bisschen geheimnisvoll sind, müssen Wissenschaftler (und Journalisten, mit deren Hilfe Wissenschaftler die Öffentlichkeit erreichen) uns die verborgene Wahrheit der Lebensmittel erklären. Formal gesehen hat das sehr viel mit einer religiösen Vorstellung gemeinsam, denn es wird suggeriert, das wirklich Wichtige wäre nicht das, was wir sehen, und deshalb brauchten wir eine Priesterschaft. Denn in einer Welt, in der Ihre persönliche Rettung in puncto Ernährung von unsichtbaren Nährstoffen abhängt, ist jede Menge Expertenhilfe nötig.
    Aber Expertenhilfe wobei eigentlich? Diese Frage bringt uns zu einer weiteren ungeprüften Annahme des Nutritionismus: dass der ganze Sinn und Zweck des Essen darin besteht, die körperliche Gesundheit zu erhalten und zu fördern. Zur Unterstützung dieser Vorstellung wird rituell die berühmte Anweisung des Hippokrates »Lasst eure Nahrung eure Medizin sein« zitiert. Ich möchte diese Behauptung im Augenblick so stehen lassen, aber doch betonen, dass nicht alle Kulturen sie teilen; zudem legt die Erfahrung dieser anderen Kulturen nahe, dass es paradoxerweise die Leute nicht kränker macht, wenn sie meinen, beim Essen ginge es um etwas anderes als um die körperliche Gesundheit – um den Genuss zum Beispiel, die Geselligkeit oder die eigene Identität. Es gibt sogar Grund zu der Annahme, dass eine solche Einstellung sie gesünder macht – siehe das »Französische Paradox«. Es ist also zumindest fraglich, ob die Ideologie des Nutritionismus wirklich gut für Sie ist.
    Aus der Grundannahme, beim Essen gehe es vor allem um die Förderung der körperlichen Gesundheit, folgt, dass die Nährstoffe in der Nahrung in gesunde und ungesunde einzuteilen sind – in gute und schlechte. Dieses Kennzeichen nutritionistischen Denkens geht bis auf Liebig zurück, dem es nicht reichte, die Nährstoffe zu identifizieren; er wählte auch ein paar Favoriten aus, und das machen die Vertreter der Nährstoff-Hypothese seitdem genauso. Liebig behauptete, für die Tierernährung sei das Protein der »Hauptnährstoff«, weil es seiner Ansicht nach das Wachstum fördere. Er setzte die Rolle, die das Protein für die Tiere spielt, mit der des Stickstoffs bei Pflanzen gleich: Protein (das Stickstoff enthält) war für Menschen der entscheidende Dünger. Liebigs Protein-Hype beherrschte das nutritionistische Denken für Jahrzehnte, während die Gesundheitsbehörden alles taten, um diesen Hauptnährstoff (vor allem in Form von tierischem Protein) breiteren Käuferschichten zugänglich zu machen und die Produktion anzukurbeln, damit größere (und, wie man annahm), gesündere Menschen heranwuchsen. (Für westliche Regierungen, die imperiale Kriege führten, besaß das tatsächlich hohe Priorität.) Unser heutiges Ernährungssystem ist weitgehend immer noch um das Protein als Hauptnährstoff
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