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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel
Autoren: Michael Pollan
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über Omega- 3-Fette zu gänzlich gegensätzlichen Schlussfolgerungen. Während das Medizinische Institut der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften kaum überzeugendes Beweismaterial dafür fand, dass das Essen von Fisch Ihrem Herzen viel Gutes tut (vielmehr Ihr Gehirn schädigen könnte, weil sehr viel Fisch mit Quecksilber verseucht ist), präsentierte eine Harvard-Studie die hoffnungsvolle Nachricht, Sie könnten Ihr Herzinfarktrisiko um über ein Drittel senken, wenn Sie jede Woche ein paar Portionen Fisch essen (oder genug Fischölkapseln schlucken). Es überrascht nicht, dass jetzt die Omega-3-Fettsäuren zu dem werden, was früher die Haferkleie war; die Lebensmittelwissenschaftler sind nämlich dabei, Fisch- und Algenöle in Mikrokapseln zu packen und in so gängige Lebensmittel wie Brot und Nudeln, Milch, Joghurt und Käse zu schleusen – die garantiert bald mit neuen, fischigen Gesundheitsbehauptungen um sich werfen werden. (Denken Sie dann an Regel Nummer eins.)
    Inzwischen haben Sie wahrscheinlich bemerkt, dass Sie als Supermarktkunde oder Leser der Wissenschaftsrubrik kognitiv ganz schön in der Bredouille sind, und sehnen sich vielleicht nach den einfachen, konkreten Worten, die ich an den Anfang dieses Buches gestellt habe. Ich bin immer noch gern bereit, sie gegen die wechselnden Winde zu verteidigen, die von der Nährstoffwissenschaft und dem Lebensmittelmarketing herüberwehen. Aber vorher möchte ich skizzieren, wie es dazu kam, dass die Frage »Was soll ich essen?« heute so viel Verunsicherung und Besorgnis auslöst. Das ist das Thema des ersten Teils dieses Buches, »Das Zeitalter des Nutritionismus«.
    Die Geschichte, wie elementarste Fragen zu unserem Ernährungsverhalten überhaupt so kompliziert werden konnten, verrät sehr viel über die institutionalisierte Macht der Lebensmittelindustrie, der Ernährungswissenschaft und – zu meiner Schande muss ich es gestehen – des Journalismus. Denn diese drei Gruppen profitieren am meisten von der weit verbreiteten Verunsicherung über die grundsätzlichste Frage, vor der ein Allesfresser steht. Dass Menschen ohne professionelle Anleitung entscheiden, was sie essen – was sie mit beachtlichem Erfolg getan haben, seit sie von den Bäumen heruntergestiegen sind -, ist für Lebensmittelfirmen unrentabel, für Ernährungswissenschaftler ein klarer Karrierekiller und für Zeitungsverleger und Reporter einfach langweilig. (Für Esser übrigens auch. Wer will schon zum x-ten Mal hören, er solle »mehr Obst und Gemüse« essen?) So hat sich über den einfachsten Ernährungsfragen eine große Verschwörung wie eine dicke graue Wolke wissenschaftlicher Komplexität zusammengebraut – sehr zum Vorteil aller Beteiligten. Außer vielleicht dem des angeblichen Nutznießers all dieser Ernährungsempfehlungen: nämlich Ihnen, Ihrer Gesundheit und Ihrer Zufriedenheit als Esser. Denn das Wichtigste, was wir über die Kampagne zur Professionalisierung von Ernährungsempfehlungen wissen müssen, ist, dass sie uns nicht gesünder gemacht hat. Im Gegenteil: Wie ich in Teil I behaupte, haben die meisten Ernährungsempfehlungen, die wir in den letzten fünfzig Jahren bekommen haben (insbesondere der Rat, die Fette in unserer Ernährung durch Kohlenhydrate zu ersetzen), uns sogar weniger gesund und deutlich dicker gemacht.
    Ich will Sie mit diesem Buch dazu anregen, Ihre Gesundheit und Ihre Zufriedenheit als Esser zurückzugewinnen. Dazu ist ein auf den ersten Blick unnötiges und sogar absurd erscheinendes Vorgehen erforderlich: ein Plädoyer für Lebensmittel und ihren Verzehr. Dass Lebensmittel und ihr Verzehr ein Plädoyer brauchen und verteidigt werden müssen, mag in einer Zeit, in der eher die Über- als die Unterernährung die Volksgesundheit bedroht, nicht sofort einleuchten. Aber ich behaupte, dass das meiste von dem, was wir heute essen, genau genommen überhaupt keine Lebensmittel mehr sind, und dass die Art, wie wir sie zu uns nehmen – im Auto, vor dem Fernseher, zunehmend allein – eigentlich nicht mehr als Essen bezeichnet werden kann, zumindest nicht in dem Sinne, in dem die Kultur den Begriff lange verstanden hat. Der Gastrosoph Jean-Anthèlme Brillat-Savarin hat im 18. Jahrhundert eine nützliche Unterscheidung getroffen zwischen der Ernährungsaktivität von Tieren, die »fressen«, und der von Menschen, die essen bzw. speisen, eine Aktivität, die, wie er meinte, der Kultur genauso viel verdankt wie der Biologie.
    Die Lebensmittel und das
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