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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Autoren: W Mass
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herumgefahren oder hätte Leute wie James, Mrs Billingsly, Mr Rudolph, Dr. Grady und
Mr Oswald selbst kennengelernt. Ich wäre ein völlig anderer Mensch. Egal was in dieser Kassette ist, ich bin meinem Vater schon jetzt dankbar, dass er sie mir hinterlassen hat.
    Lizzy erschreckt mich, indem sie »Worauf wartest du noch?« in mein Ohr brüllt.
    Ich reibe mir das Ohr und setze die Kassette auf das Handtuch. »Nur noch eine Minute.«
    Sie stöhnt und widmet sich nun dem Auftragen von Sunblocker. Ihr Vater verlangt von ihr, dass sie Lichtschutzfaktor vierzig verwendet, weil sie rothaarig ist.
    In meinem Kopf hat sich inzwischen ein Gedanke eingenistet, bei dem ich mich schäme, ihn auch nur zu denken. Aber ich kann es nicht verhindern. Was ist, wenn ich von dem, was da drin steckt, enttäuscht bin? »Vielleicht sollten wir die Kassette nicht aufmachen«, sage ich zu Lizzy. »Vielleicht war gar nicht vorgesehen, dass wir die Schlüssel finden. Komm, wir werfen die Kassette einfach ins Wasser.«
    Lizzy sieht aus, als kriegte sie gleich einen Herzinfarkt. Ihre Wangen färben sich dunkelrot. »Meinst du das etwa ERNST?«, schreit sie.
    »Nö. Los, machen wir sie auf!«
    Sie versetzt mir mit aller Kraft einen Stoß, aber ich war darauf gefasst und schaffe es, aufrecht auf dem Felsen sitzen zu bleiben.
    Ich gebe ihr die beiden Schlüssel für die Schlüssellöcher auf ihrer Seite der Kassette und sie schiebt sie hinein. Dann stecke ich meine beiden hinein. Keiner von uns macht Anstalten, die Schlüssel umzudrehen. Ich merke genau, dass Lizzy auf mein Kommando wartet.
    »Okay, umdrehen!«

    Wir hören es vierfach gleichzeitig klicken und innen drin gleitet etwas zur Seite. Ich schnaufe tief durch und hebe den Deckel an. Es ist erstaunlich, wie leicht er nach all dem Geschiebe und Gezerre und Dazwischenklemmen stumpfer Gegenstände nach oben schwingt.
    Obenauf liegt ein Umschlag mit meinem Namen. Der übrige Inhalt der Kassette ist in Geschenkpapier eingeschlagen.
    »Hey, das Geschenkpapier kenne ich!«, sagt Lizzy. »Das ist von der Party zu deinem achten Geburtstag! Ich erinnere mich dran, weil ich ein bisschen was davon geklaut hab, nachdem du deine Geschenke ausgepackt hattest, und jetzt gehört es zu meiner Sammlung geklauter Dinge!«
    Der Anblick des Geschenkpapiers erinnert mich von Neuem daran, wie lange es her ist, dass Dad diese Kassette gefüllt hat. Er hat die Party zu meinem neunten Geburtstag nicht mehr miterlebt. Ich kann mich nicht mal daran erinnern, dass ich ihn gefeiert habe.
    Ich drehe den Umschlag um. Er ist offen, ich brauche den Brief also nur herausgleiten zu lassen. Mit zitternden Händen – ich versuche vergeblich, sie ruhig zu halten – entfalte ich ihn. Dads Handschrift ist nicht die ordentlichste. Er witzelte immer, er hätte Arzt werden sollen, da Ärzte bekanntermaßen die schlimmste Klaue haben. Ich kann sehen, dass er sich mächtig ins Zeug gelegt hat, um leserlich zu schreiben. Ich gebe mir alle Mühe, den Brief laut vorzulesen, aber nach ein paar Zeilen schnürt sich mir jedes Mal die Kehle zu und ich muss ein paar Sekunden Pause einlegen.

    Lieber Jeremy,
    während ich dir dies schreibe, hast du gerade die Party zu deinem achten Geburtstag hinter dir. Wir sind mit dir in den Bronx-Zoo gegangen und dort war ein Bärenjunges, gerade mal zwei Tage alt, das vor ganz Kurzem seine Mutter verloren hatte. Erinnerst du dich? Die Zoowärter setzten das Bärenjunge zu einer Tigerin ins Gehege, die vor ein paar Tagen selbst Junge zur Welt gebracht hatte. Sie nahm das Bärenjunge als ihren eigenen Nachwuchs an. Du standest eine ganze Weile stumm da, Tränen liefen dir übers Gesicht, und du schautest zu, wie diese Tigerin ihr neues Baby säugte. Ich fragte dich, was denn los sei. Du sagtest: »Ich hätte nie gedacht, dass es so was Schönes gibt.« Deine Mutter und ich sahen uns an und waren sehr beeindruckt von dir.
    Ich weiß nicht, ob du dich jetzt noch an dieses Ereignis erinnerst, fünf Jahre sind eine lange Zeit im Leben eines Kindes (Entschuldigung, eines JUGENDLICHEN). Mich jedenfalls stimmte es zuversichtlich, dass du eines Tages so weit sein würdest, diese Kassette in Empfang zu nehmen. Ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht sein. Ich möchte dir ein paar Dinge erzählen, die ich in den fünfundzwanzig Jahren gelernt habe, seit jene Wahrsagerin in Atlantic City mir solch eine schlimme Prophezeiung gemacht hat. Natürlich hoffe ich, dass ich an deinem dreizehnten Geburtstag neben dir stehen
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