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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Autoren: W Mass
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behutsam eine Spielkarte zum Vorschein. Zuerst sehen wir nur das blaue Muster auf der Rückseite der Karte. Dann dreht Lizzy die Karte um und schnappt nach Luft. Es ist der Karo-Bube, eine der beiden letzten Karten, die ihr in ihrer Sammlung noch fehlen. Ich schaue genauer hin. Quer darüber, eindeutig in der Handschrift meines Dads, sind die Worte Erwarte das Unerwartete geschrieben.

    »Aber wie … wie hat er …«, stammelt sie und starrt auf die Karte.
    Mich haut es genauso um wie sie. Als der Unfall passierte, hatte Lizzy ihre Sammlung gerade mal angefangen. Ich versuche, das Zittern aus meiner Stimme zu verdrängen, und antworte: »Wie du schon sagtest, die Wege meines Dads sind unerforschlich.« Ich kann kaum glauben, dass ich auch nur eine Sekunde lang befürchtet habe, der Inhalt der Kassette könnte eine Enttäuschung sein. Er ist genau richtig. Er ist perfekt.
    »Aber du warst dabei!«, ruft Lizzy aus. »Die Herzacht hab ich ja erst vor ein paar Wochen gefunden!«
    »Ich weiß.«
    »Wie konnte er dann …«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber …«
    Ich befördere den Steinhaufen in die Kassette zurück. »Manche Dinge soll man vielleicht nicht herausfinden. Vielleicht soll man sie einfach akzeptieren.«
    »Das ist wie Zauberei«, sagt Lizzy mit glänzenden Augen. »Nicht wie so ein Zaubertrick, bei dem du einem Kind ein Fünfundzwanzig-Cent-Stück aus dem Ohr ziehst, sondern echte Zauberei.«
    Ich nicke, unfähig, mir irgendeine andere Erklärung zurechtzulegen. Ohne die Karte aus den Händen zu lassen, hilft mir Lizzy, alles wieder in unsere Rucksäcke zu packen. Ich halte das Boot fest, damit sie einsteigen kann, dann löse ich das Tau und folge ihr. Auf dem ganzen Weg zurück zum Ufer redet Lizzy pausenlos darüber, dass sie das mit der Karte einfach nicht glauben kann, und dass es total nett von meinem Dad war, auch an sie zu denken. Sie glüht regelrecht vor Freude.
Ich höre ihr mit einem Ohr zu und denke gleichzeitig über alles nach und dann schlägt es bei mir wie eine Bombe ein. Ich weiß, wie die Karte dorthin gekommen ist. Ich weiß, woher Dad wusste, dass die Kassette schwer zu öffnen sein würde. Ich bin so erschüttert von dem Strom von Bildern, die mir durch den Kopf schießen, dass ich sofort aus dem Boot klettere, als es am Ufer anlandet.
    Nur dass das Boot nicht ansatzweise in Ufernähe ist. Das dämmert mir langsam, als ich bemerke, dass ich bis zu den Schultern im See stehe. Lizzy lehnt sich seitlich aus dem Boot und versucht krampfhaft, auf sich aufmerksam zu machen.
    »Was ist denn jetzt passiert?«, schreit sie. »Grade hast du noch hier gesessen und eine Sekunde später wirst du leichenblass und kippst aus dem Boot. So was Seltsames hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Das heißt, abgesehen von dieser Spielkarte. Geht’s dir gut?«
    Ich nicke, das Einzige, wozu ich in diesem Augenblick fähig bin. Mein Kopf ist noch damit beschäftigt, die Ereignisse Schicht um Schicht abzutragen, ähnlich wie bei den kleinen Matrjoschka-Puppen, bei denen jedes Mal, wenn man eine Puppe auseinandernimmt, eine noch kleinere innendrin steckt.
    Mom und Grandma sind zum Wassersaum gelaufen und schwenken die Arme. Ich höre ihre Stimmen, kann aber nicht verstehen, was sie rufen. »Soll ich dir wieder ins Boot helfen?«, fragt Lizzy. »Komm, nimm meine Hand.«
    Ich schüttle den Kopf. »Ich gehe zu Fuß«, verkünde ich. »Es ist ja nicht so weit. Ist es in Ordnung für dich, wenn du ruderst?«
    »Ich komm schon klar«, sagt sie und rutscht auf die mittlere
Sitzbank. »Bist du sicher, dass es dir gut geht? Es ist noch keine zehn Minuten her, da hat dein Dad uns gesagt, wir sollen aufeinander aufpassen, und bevor ich richtig hinschaue, bist du über Bord gegangen. Was macht denn das für einen Eindruck?«
    Ich würde ihr gern erzählen, was ich herausgefunden habe, aber es geht nicht. Das Geheimnis um ihre Spielkarte möchte ich einfach noch ein Weilchen bewahren. Ich beginne, aufs Ufer zuzugehen, und Lizzy rudert langsam neben mir her. Alle paar Schritte stolpere ich ein wenig und muss schwimmen. Ich kann es gar nicht glauben, dass ich aus dem Boot gefallen bin. Wenigstens ist mein Rucksack noch sicher drin. Wenn Dads Brief und seine Liste nass geworden wären, hätte ich mir das nie verziehen.
    »Erklärung?«, sagt Mom, als ich mich tropfnass an Land schleppe.
    »Kann nicht behaupten, ich hätte eine.«
    »Na, immerhin bist du anscheinend unverletzt. Hast du die Kassette geöffnet?«
    Ich
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