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Leben im Buero

Leben im Buero

Titel: Leben im Buero
Autoren: Christoph Bartmann
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sie »mittragen«. Gerade wenn solche Diskussions- und Entscheidungsfreude pfeilschnell aus einer vorangegangenen Schläfrigkeit herausschießt, ist sie wirkungsvoll; nicht etwa dann, wenn ich schon die ganze Zeit interessiert getan habe. Wollte man das anhand meines Sitzverhaltens visualisieren, so wäre es so, dass ich zunächst eine ganze Weile die Beine übereinandergeschlagen und den Stuhl weit vom Sitzungstisch weggerückt hatte, und nun buchstäblich anrücke, den Körper in Arbeitshaltung und die Hände in Schreibhaltung, und auf diese Weise die Botschaft verkündend: bis hierher hat mich das alles eher weniger interessiert, aber da wir uns hier nun einer Entscheidung nähern, möchte ich nun doch … Nicht dass das ein Rezept wäre. Die anderen sind ja im Prinzip ausgeschlafener als ich – wobei es eben kein Vorteil ist, allzu ausgeschlafen zu sein. Jeder mischt sich selbst seinen Zaubertrank aus Arroganz und Bescheidenheit, Passivität und Aktivität, und manchmal wirkt er Wunder, manchmal nicht.
    Â 
    12:00 Uhr. Evaluationsgespräch . Ein junger Mann, er könnte noch Student sein, hat sich auf einen Besuch angesagt. Er ist freier Mitarbeiter bei einer Firma, die in unserem Auftrag bestimmte Maßnahmen und Projekte evaluiert. Eigentlich wird bei uns fast jeden Tag etwas evaluiert, nicht weil wir uns das ausgesucht haben, sondern weil Evaluation die Methode ist, mit der sich Organisationen heutzutage ihr Recht auf Fortbestand sichern. So eine Evaluation ist nie billig, selbst dann nicht, wenn sie am Telefon vorgenommen wird, aber wir glauben, dass das Geld gut angelegt ist, denn wenn wir uns nicht evaluieren ließen, würden uns die Finanzmittel vielleicht gestrichen.
    Man kann nicht behaupten, dass Evaluation eine Mode sei. Für eine Mode dauerte Evaluation schon recht lange, und außerdem gibt es keine einzige Behörde oder sonstige öffentliche Einrichtung, an der nicht fleißig evaluiert würde, und längst schon können wir uns vor-evaluative Zustände nicht mehr vorstellen. Der junge Mann ist gut informiert und stellt intelligente Fragen, die ich nach besten Kräften zu beantworten versuche. Im Lauf der Jahre, die immer auch Kürzungsjahre, Sparjahre, Umstrukturierungsjahre und also Evaluationsjahre waren, habe ich mir Antworten angewöhnt auf mögliche oder tatsächliche Fragen nach Wirkung, Leistung, Messbarkeit, Ergebnis und Performance. Die Evaluatoren sagen mir nicht gleich, ob sie meine Antworten gut oder schlecht finden, ich lese es allenfalls später, wenn ihr Evaluationsbericht vorliegt. Jedenfalls ist das Evaluationsgespräch mit dem jungen Mann eine jener Meta-Aktivitäten, die meinen Bürotag füllen. Ich arbeite nicht, ich rede über meine Arbeit – sofern das überhaupt ein Unterschied ist. Ich fülle Fragebögen aus oder antworte auf Telefonfragen oder stehe dem jungen Evaluator Rede und Antwort – immer befriedige ich die Neugier von Menschen, die dafür bezahlt werden, sich für meine Arbeit zu interessieren, und, darauf kommt es an, die auf Grundlage meiner Auskünfte zu Bewertungen meiner Arbeit kommen. Solche Bewertungen entscheiden, ob ich meine Arbeit auch in Zukunft tun kann. Die nette Evaluationskraft, mit der ich jetzt so angeregt plaudere, hat also Macht über mich. Sie kommt zu Urteilen, zu denen ich selbst oder die Organisation, für die ich arbeite, aus eigener Kraft offenbar nicht kommen kann. Warum? Sind wir zu dumm? Sind wir befangen? Fehlt uns die Befähigung zur Selbstbeurteilung? So ist es wohl. Das Urteil über uns muss delegiert, es muss »outgesourct « werden, an eine Agentur, an einen externen Dienstleister. Dort kennt man zwar unsere Arbeit kaum, aber man verfügt über wissenschaftlich fundierte Evaluationskompetenz.
    Wenn ich darüber nachdenke, während ich noch meinem Interviewer die gewünschten Auskünfte gebe, wird mir wieder schummerig zumute. Was ist eigentlich aus meiner eigenen schönen Urteilskraft oder auch nur der Fähigkeit, gute von schlechten Taten zu unterscheiden, geworden? Warum wird sie hier nicht gebraucht? Wer ist denn hier der Profi, der junge Student oder ich? Habe ich diese Delegation des eigenen Urteils an Agenturen angeordnet? Und wenn nicht ich, wer dann? Niemand war es in Person, nehme ich an, es war wohl die unsichtbare Hand des New Public Management oder kurz NPM. Jedenfalls ist die
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