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Leben bis zum Anschlag

Leben bis zum Anschlag

Titel: Leben bis zum Anschlag
Autoren: Elisabeth Rapp
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Zitrone getan hat, dass Leif in die Realität zurückfindet.
    »Du bist süß«, murmelt er, nimmt das Glas aus ihrer Hand und zieht sie neben sich aufs Sofa.
    »Du auch«, schnurrt Maika und lehnt den Kopf an seine Schulter.
    »Das mit dem Eisboxscheiß, das meinst du nicht ernst«, vergewissert sich Leif und lutscht an der Zitrone.
    »Doch.«
     
    Mehmet zerrt an der Kabeltrommel. Er richtet die Bühne für die Türken ein, deutschtürkische Punkrocker aus Istanbul, die durch Nordeuropa touren. Anstatt ihm zu helfen, wartet Dali darauf, dass Maika aus dem Büro verschwindet, damit er mit Leif die
Coverentwürfe besprechen kann. Das nervt Mehmet ebenso wie die Tatsache, dass Maika immer abhaut, bevor sie fertig sind. Vor allem weil sich die übrig gebliebenen vier dann automatisch in zwei Zweiergruppen aufteilen. Dann hilft Dali ihm bei der Bühnentechnik, während Keath die Bierkisten aus dem Getränkeschuppen zur Bar schleppt, die Nora sauber machen muss, wenn Maika sich verpisst. Und genau da hört er die beiden jetzt rumschäkern. Zum Kotzen ist das, und noch mehr zum Kotzen ist, dass er sich darüber ärgert. Und er ärgert sich, weil sein Ehrgefühl es ihm verbietet, sich darüber zu ärgern, dass andere gute Laune haben.Theoretisch.
     
    Mit dem Getränketransport ist die Hitze durch die offene Tür bis an die Bar gekrochen. Nora füllt den Kühlschrank mit den lauwarmen Flaschen auf, während Keath ihr mit düsterem Unterton von seinem ersten Schultag erzählt.
    »Ich hab mich umgekuckt und keinen gekannt. Da war mir klar, dass jetzt die kälteste und härteste Zeit meines Lebens kommt.«
    »Kalte Zeiten können auch schön sein.« Nora liebt es, mit Keath zu reden, wenn von den anderen keiner dabei ist.
    Keath manövriert eine Bierkiste in die letzte freie Ecke unter der Theke. »Schön? Ich war in einem geschlossenen Raum mit den teuflischsten und brutalsten kleinen Arschlöchern, die es gibt! Du hast ja keine Ahnung, wie fies die waren.«
    »Wieso kanntest du niemand?«
    »Meine Mutter hat sich extra polizeilich bei einer Freundin angemeldet, damit sie mich in Neustadt und nicht auf dem Kiez einschulen konnte. Als Einziger aus meiner Kita. Und ich hatte auch noch eine Kleine-Geschwister-Schultüte, also mit Abstand
die kleinste Tüte. War aber mit Abstand der größte und einzige schwarze Kerl.« Er klopft auf Noras Rücken, sie hat sich verschluckt. »Du lachst. Ich hab geheult, Mann. Der neben mir hat gestichelt: Flenn doch, flenn doch! Kleine durfte ich aber nicht verkloppen, also hab ich mir in die Hose gepisst. Und – zack – war der einzige Soloplatz meiner.« Er klopft weiter. Nora japst noch immer nach Luft. »Meine Position war weit unter der der anderen Außenseiter. Ich hab die Schule gehasst. Von der ersten bis zur letzten Sekunde.«
    Seine Erinnerungen lassen ihn so geschockt wie damals aussehen, was im krassen Kontrast dazu steht, dass Nora ihm nur bis ans Schlüsselbein reicht.
    Sie erzählt ihm von ihrem ersten Schultag in Deutschland. »Danke, guten Tag, ich heiße Nora Lewandowska, konnte ich sagen, wurde aber der Einfachheit halber Polenzwerg genannt. Ich war die Kleinste, gerade mal neun. Bis zum Halbjahr musste ich in Deutsch auf einem vergleichbaren Stand mit den anderen sein oder ab, zurück in die Grundschule.« Die Härchen an Noras Arme stellen sich auf. »Albträume auf Deutsch hatte ich. Jede Nacht.«
    »Nimm die Arme aus dem Kühlschrank, bevor sie abfrieren«, sagt Keath. »Wieso hast du nicht einfach die Vierte wiederholt?«
    »Ein Jahr länger? Freiwillig?« Sie starrt ihn ungläubig an, und dann fliegen ihre Haare, so schüttelt sie den Kopf.
    Manchmal sieht sie wie ein Kind aus, denkt Keath, und dann wieder … Bevor er den Impuls nicht mehr unterdrücken kann, sie in die Arme zu nehmen, wendet er sich ab.
    Darauf hat Nora nur gewartet. Sie zieht die eiskalten Hände aus dem Kühlschrank und legt sie ihm auf den bloßen, muskulösen Rücken. Sein Atem stockt, er fährt herum, packt ihre Hände
und Noras Knie werden schlagartig weich. »Ich wollte dich bloß … erfrischen«, sagt sie zu ihren Füßen.
    »Danke«, sagt er, lässt los und räuspert sich den Frosch aus dem Hals. »Ich glaub, ich hab ’n Herzstillstand.«
    Nora nimmt den Lappen und reibt in dem desinfizierten Spülbecken herum. »Kriegst du es wieder in Gang?«
    Er legt die Hand auf sein wild schlagendes Herz und schüttelt den Kopf. »Das war’s.«
    »Das Herz wird überbewertet. Ohne geht vieles
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