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Lauter reizende alte Damen

Lauter reizende alte Damen

Titel: Lauter reizende alte Damen
Autoren: Agatha Christie
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und schob die Tür wieder zur Wand. Sie schloss sich mit einem harten Schnappen.
    »Vermutlich wurde das installiert, als man beschloss, das Haus als Versteck zu benutzen«, sagte Tuppence.
    »Oh, die haben so vieles verändert. Aber nehmen Sie doch Platz. Möchten Sie lieber einen hohen oder einen niedrigen Stuhl? Ich brauche immer hohe Stühle. Ich leide an Rheumatismus. – Sie haben wahrscheinlich geglaubt, dass hier eine Kinderleiche sei. Finden Sie nicht auch, dass das eine ziemlich absurde Idee ist?«
    »Ja, vielleicht.«
    »Räuber und Gendarm«, sagte Mrs Lancaster nachsichtig lächelnd. »Torheit der Jugend. Eine Bande – große Raubzüge – ach, wie verlockend ist das, wenn man jung ist. Nichts Schöneres auf der Welt, als eine Räuberbraut zu sein! Ich habe das einmal geglaubt.« Sie beugte sich wieder vor und tippte Tuppence auf das Knie. »Glauben Sie mir, es ist nicht wahr. Wirklich nicht. Es ist nicht gerade aufregend, zu stehlen und sich dann mit der Beute davonzumachen. Aber immerhin, gut organisiert muss es natürlich sein.«
    »Meinen Sie Mrs Johnson oder Miss Bligh oder wie immer Sie sie nennen…«
    »Für mich ist sie einfach Nellie Bligh. Aus irgendeinem Grund – sie sagt, es würde vieles erleichtern – nennt sie sich gelegentlich Mrs Johnson. Aber sie war nie verheiratet. Sie ist eine alte Jungfer.«
    Unten wurde laut geklopft.
    »Ach«, sagte Mrs Lancaster, »das müssen die Perrys sein. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so früh zurückkommen würden.«
    Das Klopfen wurde stärker.
    »Sollten wir ihnen nicht aufmachen?«, fragte Tuppence.
    »Nein, meine Liebe, das werden wir nicht tun. Ich mag es nicht, wenn jemand aufdringlich ist. Wir unterhalten uns gerade so gut. Das tun wir doch, nicht wahr? Wir bleiben hier oben. – Ach, jetzt rufen sie schon unter dem Fenster. Sehen Sie doch mal nach, wer es ist.«
    Tuppence trat ans Fenster. »Mrs Perry.«
    Mrs Perry rief: »Julia! Julia!«
    »Eine Unverschämtheit!«, entrüstete sich Mrs Lancaster. »Leuten wie den Perrys verbiete ich, mich beim Vornamen zu nennen. Aber lassen Sie nur, regen Sie sich nicht auf, Liebste, wir sind hier ganz sicher. Und wir können in aller Ruhe sprechen. Ich will Ihnen von mir erzählen. Mein Leben war sehr interessant. Sehr ereignisreich. Manchmal denke ich, ich sollte alles aufschreiben. Als junges Mädchen war ich ein bisschen wild. Ich habe mit einer – ja, man muss schon sagen, mit einer richtigen Verbrecherbande gelebt. Manche von ihnen waren sehr unerfreulich. Aber es gab auch welche, die wirklich nett waren. Und aus guten Familien.«
    »Miss Bligh?«
    »Nein, Miss Bligh hat nie etwas mit Verbrechen zu tun gehabt. Nicht Nellie Bligh. Sie ist fromm und mildtätig. Aber es gibt verschiedene Arten, religiös zu sein. Sie wissen das sicher.«
    »Sie meinen die verschiedenen Sekten?«
    »Keineswegs. Ich meine, es gibt nicht nur ›normale‹ Menschen. Es gibt auch die Ausgefallenen, die ausgefallenen Befehlen folgen. Es gibt eine Elite. Sie verstehen sicher, meine Liebe, wie ich das meine?«
    »Ich fürchte nein«, sagte Tuppence. »Glauben Sie nicht, wir sollten die Perrys in ihr eigenes Haus lassen? Sie sind schon ganz aufgeregt…«
    »Nein, wir lassen sie nicht herein. Nicht, ehe ich… Ihnen alles erzählt habe. Aber Sie müssen keine Angst haben. Es ist alles ganz – ganz harmlos. Es tut überhaupt nicht weh. Es ist, als schliefe man ein. Das ist alles.«
    Tuppence starrte sie entgeistert an; dann sprang sie auf und lief zur Tür.
    »Da kommen Sie nicht raus«, rief Mrs Lancaster. »Sie wissen nicht, wo die Feder ist. Nur ich weiß das. Ich kenne alle Geheimnisse dieses Hauses. Ich habe hier mit den Verbrechern gewohnt, bis ich das Heil erkannte und fortging. Mir ist eine besondere Rettung widerfahren. Eine Erlösung von meinen Sünden durch das Kind, wissen Sie. – Ich habe es getötet. – Ich war Tänzerin. – Ich wollte kein Kind. – Dort, an der Wand, das bin ich – als Tänzerin.« An der Wand hing ein Ölgemälde, das ein junges Mädchen in einem weißen Satinkostüm mit Flügeln zeigte. Darunter stand »Waterlily«.
    »Waterlily war meine Glanzrolle.«
    Tuppence kam langsam zurück und setzte sich wieder. Worte stiegen in ihr auf, die sie im Sonnenhügel gehört hatte. War es Ihr armes Kind? Sie hatte damals Angst gehabt. Und sie hatte auch jetzt Angst. Sie wusste nicht so recht, wovor, aber die Angst war da, während sie das gütige Gesicht mit dem freundlichen Lächeln vor sich
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