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Lauter reizende alte Damen

Lauter reizende alte Damen

Titel: Lauter reizende alte Damen
Autoren: Agatha Christie
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auf sie zu.
    »Wie dumm Sie sind, dass Sie es so haben wollen!« Ihr linker Arm schnellte vor und packte Tuppence bei der Schulter. Die rechte Hand löste sich vom Rücken – sie hielt den Griff eines dünnen Stiletts. Tuppence versuchte sich loszureißen. Ich werde leicht mit ihr fertig, dachte sie. Leicht. Sie ist eine alte Frau. Schwach. Sie kann nicht…
    Doch plötzlich lähmte sie nackte, kalte Angst. Ich bin ja auch eine alte Frau! Ich bin nicht so stark, wie ich glaube. Ihre Hände, ihre Umklammerung, ihre Finger! Sie ist verrückt. Und Verrückte können Riesenkräfte entwickeln!
    Die blitzende Klinge näherte sich. Tuppence schrie auf. Unten hörte sie Rufe und dumpfe Schläge. Sie werden nie kommen, schoss es ihr durch den Kopf. Sie kommen nicht durch diese Geheimtür, wenn sie den Mechanismus nicht kennen!
    Sie kämpfte verzweifelt. Es gelang ihr gerade noch, Mrs Lancaster von sich abzuhalten. Aber Mrs Lancaster war größer als sie; und stark. Auf ihrem Gesicht lag noch immer das Lächeln, aber es war nicht mehr gütig. »Killer-Kate«, keuchte Tuppence.
    »Sie kennen also meinen Spitznamen? Aber ich habe mich darüber erhoben. Ich bin eine Mörderin des Herrn geworden. Es ist sein Wille, dass ich Sie töte.«
    Tuppence wurde gegen die Seite eines großen Lehnstuhls gedrückt. Mrs Lancaster hielt sie mit voller Kraft nieder. Tuppence konnte nicht weiter zurückweichen. Die Hand mit dem Stilett war jetzt ganz nahe.
    Ich darf nicht aufgeben! Tuppences Gedanken jagten sich. Keine Panik – nur keine Panik! Aber gleichzeitig war da die bohrende Frage: Was kann ich denn noch tun?
    Und dann kam die Todesangst – dieselbe plötzliche Angst, deren erste Anzeichen sie im Sonnenhügel gespürt hatte.
    »Ist es Ihr armes Kind?«
    Das war die erste Warnung gewesen, aber sie hatte sie nicht verstanden!
    Ihre Augen richteten sich auf den Stahl, aber nicht sein Glitzern lähmte sie vor Entsetzen, sondern das Gesicht dahinter – das lächelnde, gütige Gesicht von Mrs Lancaster. Sie lächelte glücklich und zufrieden. Sie erfüllte ihre Aufgabe.
    Sie sieht nicht wahnsinnig aus, dachte Tuppence. Das ist das Schlimmste. Sie ist eine ganz normale, vernünftige Frau – das glaubt sie… Oh, Tommy, Tommy, was geschieht jetzt mit mir!
    Schwindel und Schwäche überfielen sie. Ihre Muskeln gaben nach – irgendwo klirrte Glas. Es riss sie fort in Dunkelheit und Bewusstlosigkeit.
    »So, gut so – es geht wieder. Trinken Sie das, Mrs Beresford.« Ein Glas vor ihren Lippen. – Sie wehrte sich wild. – Vergiftete Milch – wer hatte das gesagt? Sie würde keine vergiftete Milch trinken… Aber das war nicht Milch – es roch ganz anders… Sie sank zurück, öffnete die Lippen, trank…
    »Brandy«, sagte Tuppence.
    »Ja. Trinken Sie nur…«
    Tuppence trank. Sie lag auf weichen Kissen und betrachtete ihre Umgebung. Eine Leiter ragte ins Fenster. Davor lagen Glasscherben auf dem Fußboden.
    »Ich habe das Klirren gehört!«
    Sie schob das Glas mit dem Brandy fort, und ihre Augen folgten der Hand, die es gehalten hatte, und dem Arm bis zum Gesicht des Mannes. »El Greco«, sagte sie.
    »Wie bitte?«
    »Es ist nicht wichtig.«
    Tuppence blickte sich suchend im Zimmer um.
    »Wo ist sie? Mrs Lancaster.«
    »Sie – sie ruht sich aus. Nebenan.«
    »Ich verstehe.« Aber sie verstand es wohl nicht. Vielleicht später. Im Augenblick war es zu kompliziert für sie.
    »Sir Philip Starke«, sagte sie langsam und zweifelnd.
    »Ja. – Warum haben Sie eben El Greco gesagt?«
    »Wegen des Leidens.«
    »Wie meinen Sie…«
    »Das Bild – in Toledo – oder im Prado. Vor langer Zeit erinnerte ich mich daran, nein, es ist noch nicht lange her.« Sie dachte nach und machte eine Entdeckung. »Gestern Abend. Eine Gesellschaft – im Pfarrhaus…«
    »Es geht Ihnen schon besser«, sagte er aufmunternd.
    Es schien ganz natürlich zu sein, dass sie hier in diesem Zimmer saß, in dem Scherben auf dem Fußboden lagen, und dass sie mit diesem Mann sprach – mit dem dunklen, leidenden Gesicht.
    »Ich habe einen Fehler gemacht – im Sonnenhügel. Ich habe mich getäuscht… Ich hatte Angst – es war wie eine Welle von Angst… aber ich habe es nicht begriffen, denn ich hatte nicht vor ihr Angst, sondern um sie. Ich dachte, es würde ihr etwas passieren. – Ich wollte sie schützen – sie retten. Ich…« Sie sah ihn unsicher an. »Verstehen Sie das? Oder halten Sie mich für verrückt?«
    »Niemand versteht es besser als ich – niemand auf der
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