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Laugenweckle zum Frühstück

Laugenweckle zum Frühstück

Titel: Laugenweckle zum Frühstück
Autoren: E Kabatek
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Mann in Uniform, der nicht lächelte. Gottfried war aus dem Zweiten Weltkrieg nicht zurückgekehrt. Streng genommen war Dorle also ein ewiger Single, weil sie nie mehr einen anderen Mann angeschaut hatte, aber damit durfte man ihr nicht kommen. Sie selbst bezeichnete sich als Witwe und trug Zeit ihres Lebens schwarz. Katharina und ich liebten es, ehrfurchtsvoll vor dem vergilbten Bild zu stehen. Ach, es war so entsetzlich traurig.
    Bevor sie uns abends nach Hause schickte, mussten wir die Hände falten und sie befahl uns und unser Seelenheil dem Herrn Jesus an. Sie beschwor den Herrn Jesus auch, dass sich unsere Eltern mehr um uns kümmern sollten. Mir war es ziemlich peinlich, dass Dorle dem Herrn Jesus so genau sagte, wie es bei uns zu Hause zuging.
    Nach Abschluss des Projekts in Sibirien war Olga zu meinem Vater in sein kleines, unbesiegbares Dorf gezogen. Unbesiegbar deshalb, weil es sich hartnäckig und erfolgreich gegen die Eingemeindung durch die mächtige benachbarte Metropole gewehrt hatte. Die Ankunft einer fragilen, dunkelhaarigen Schönheit, die nicht einmal evangelisch war, wirbelte mächtig Staub auf, vor allem in der pietistischen Mafia, die die Einhaltung der Moral im Ort kontrollierte. Noch viel schlimmer als die Tatsache, dass das Hermännle keine Frau aus dem Ort genommen hatte, war natürlich, dass ich schon auf der Welt und er noch nicht verheiratet war. Meine Eltern heirateten evangelisch und ließen mich gleichzeitig taufen, weil meiner Mutter ihre orthodoxe Religion vollkommen egal war und die pietistische Familie sonst meinen Vater verstoßen hätte.
    Meine Mutter war nicht dumm. Sie kapierte ziemlich schnell, was in einem Dorf, in dem man Rei’gschmeckten erst in der vierten Generation zutraute, den Hefekranz sachgerecht einzutunken, von einer angeheirateten Russin erwartet wurde. Um akzeptiert zu werden, musste sie sich anstrengen. Mehr noch als eine Einheimische, weil man ihr besonders auf die Finger schaute. Sie musste nachmittags im Garten schaffen und Tomaten setzen, eigene Äpfel ernten und daraus Apfelkompott kochen, die Wäsche draußen aufhängen, am Samstag den Gehsteig kehren und kurz darauf hatte gefälligst der Duft von frisch gebackenem Sonntagskuchen aus dem Küchenfenster zu wehen. Wenn eine Nachbarin aus dem Fenster sah, während sie in ihrer Kittelschürze Unkraut jätete, hatte sie sich stöhnend aufzurichten, die Hand in die Seite zu stemmen, über die viele Hausarbeit und den faulen Ehemann zu klagen und ein ausführliches Schwätzchen zu halten. Und selbstverständlich hatte sie sonntags pünktlich, ordentlich gekleidet und demütig an der Seite ihres Gatten im Gottesdienst zu erscheinen, idealerweise das wundervolle braune Haar zu einem züchtigen Dutt aufgesteckt. Zusätzliche Bonuspunkte gab es für den Beitritt zum Frauenkreis oder Kirchenchor und für akzentfreies Schwäbisch.
    All diese Dinge musste sie tun. Oder besser gesagt: Sie hätte sie tun müssen. Olga überlegte eine Weile, betrachtete ihre gepflegten Fingernägel und die durchscheinende, alabasterfarbene Haut ihrer Arme und traf dann eine folgenschwere Entscheidung. Es war ihr vollkommen egal, was das Dorf, Hermännle, ihre Schwiegereltern, Dande Dorle oder ihre Kinder über sie dachten. Von Stund’ an lebte sie frei nach der Devise, dass ihr ein ruinierter Ruf an der Seite eines gut verdienenden Ingenieurs ein entspanntes Leben verschaffte. Schließlich hatte sie nicht in den Westen geheiratet, um weiterhin zu schuften.
    Stattdessen lag sie bei gutem Wetter unter einem Sonnenschirm im Liegestuhl, bei schlechtem Wetter oder kühler Witterung auf dem Sofa im Wohnzimmer und las Tolstoi oder Dostojewski. Während anderen Kindern im Vorschulalter
Der Kleine Wassermann
oder
Pippi Langstrumpf
vorgelesen wurde, wuchsen wir mit
Krieg und Frieden
auf, natürlich im russischen Original, und fanden es wunderbar. Später, als wir selber lesen konnten, verschwand Olga ganz allmählich immer mehr aus unserem Alltag. Sie vertauschte das Sofa im Wohnzimmer mit einem Sofa in einem weitgehend unbenutzten kleinen Zimmer im ersten Stock, das wir weiterhin Bügelzimmer nannten, obwohl meine Mutter nie bügelte. Das Zimmer wurde zu ihrem Refugium, in dem sie den Großteil ihres Lebens verbringen sollte. Sie richtete sich das Zimmer gemütlich ein, kaufte bunte Kissen, stapelte Bücher bis unter die Decke, ließ sich von Vater einen Plattenspieler und sämtliche Aufnahmen von Maria Callas schenken und verbrachte dort den
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