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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Autoren: Michael Winterhoff
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Vorstellung vom Zu-sich-Kommen wäre nun, einmal eine Kirche aufzusuchen, sich in die Kirchenbank zu setzen und die Stille auf sich wirken zu lassen. Dadurch, so die Vermutung, müsste von allein Ruhe im Inneren einkehren, Alltagsstress und Sorgen sollten sich so besser verarbeiten lassen.
    Der Mensch im Hamsterrad würde aber sehr schnell feststellen, dass das nicht funktioniert. Zunächst einmal würde er vielleicht schon den Vorschlag, die Kirche aufzusuchen, ablehnen und Gründe finden, warum das nicht geht: von »keine Zeit« über »ich bin nicht gläubig« bis »vom langen Sitzen bekomme ich Rückenschmerzen«. Den Mechanismus habe ich bereits angedeutet: Die Gründe, das Vorhaben nicht umzusetzen, erscheinen für den Einzelnen einleuchtend, während der tatsächliche Grund für diese Rationalisierung tiefer liegt. Genau hier schon beginnt die Psyche Widerstände aufzubauen, um ihr hochgedrehtes Niveau zu erhalten. Bereits die Aussicht auf Ruhe und Entspannung versetzt sie, bildlich gesprochen, in Aufruhr, und sie liefert dem Menschen Ausreden.

    Nehmen wir weiter an, der Mensch setzt sich darüber hinweg, weil er sich vorgenommen hat, diesen Weg zur Ruhe zu versuchen. Was im Hamsterrad passieren würde, wenn der Versuch konsequent durchgezogen werden würde, kann man in drei Stufen erklären.
    Zunächst ist es gut, die Zeit in der Kirche nicht zu sehr auszudehnen, 45 Minuten wären absolut genug. Länger würde jemand, dessen Psyche im Katastrophenmodus läuft, es vermutlich auch kaum aushalten. Denn wichtig ist außerdem, wirklich nur dazusitzen und nichts zu tun. Im Gesangbuch blättern, mit dem Pfarrer reden, aufstehen und den Altar bewundern, was auch immer es ist: Wir würden es tun, weil es uns in Aktion hält und unterschwellig der Psyche helfen würde, ihr Niveau zu halten.
    Auf der ersten Stufe, also beim ersten Mal, und sicher auch noch die nächsten Male wäre dieses Dasitzen und Nichtstun kaum auszuhalten. Der Mensch im Hamsterrad würde sich in diesem Moment klar darüber werden, wie sehr er innerlich rotiert und eben trotz totaler Stille um ihn herum überhaupt keine Ruhe findet. Er würde merken, wie er völlig nach außen ausgerichtet versuchen würde, ein Ziel für irgendeine Aktion zu finden. Gesangbuch, Pfarrer, Altar. Wenn er es schafft, sich das zu versagen, wird er nach 45 Minuten die Kirche verlassen und vielleicht sogar bedauern, den Versuch überhaupt gestartet zu haben, da man doch in der Zeit so viel hätte erledigen können.
    Jetzt käme es darauf an, den Versuch fortzusetzen. Langsam, irgendwann würde sich eine Veränderung einstellen, gewissermaßen die zweite Stufe erreicht werden. Das totale Rotieren, die völlige Unruhe wären weg, man könnte die Ruhe und Stille aushalten. Aber eben nur aushalten, der
eigentlich gedachte Effekt wäre dann immer noch nicht vorhanden.
    Dieser Effekt, gleichbedeutend mit dem Genuss der Stille und der echten Rückkehr zu innerer Ruhe, würde sich auf der dritten Stufe einstellen.
    Leiden – Aushalten – Genießen. Dieser Dreiklang wird möglich, wenn sich ein im Hamsterrad befindlicher Mensch wirklich auf den Versuch einlassen wird, über mehrere Tage hinweg die Ruhe solch einer Kirche immer wieder aufzusuchen.
    Es geht dabei natürlich nicht primär um das Kirchenerlebnis, auch wenn die dort vorhandene besondere Art der Stille sicher sehr gut geeignet wäre. Sie können sich auch ein anderes Szenario denken, und wenn es der Liegestuhl auf Ihrer Terrasse ist. Das Prinzip ist das gleiche. Wichtig ist dabei: nur daliegen. Keine Musik auf den Ohren, kein Buch vor den Augen, keine Unterhaltung, nichts. Es würden sich die gleichen Effekte einstellen, auf der ersten Stufe wäre es kaum auszuhalten, und schon nach wenigen Minuten würde die Psyche dafür sorgen, dass man das dringende Bedürfnis hat, etwas anderes zu tun. Auf der zweiten Stufe wäre es einfacher, länger liegen zu bleiben, aber man würde es nur aushalten; auf der dritten Stufe wäre die Ruhe und Entspannung da, und das Liegen wäre ein Genuss. Wohlgemerkt: Auch das würde nur erreicht werden, wenn man sich über viele Tage auf diese »Übung« einlassen würde.
    Der gemeinsame Nenner bei allen denkbaren Aktionen ist die zeitliche Länge, die zum Auflösen der Widerstände notwendig ist, welche die Psyche in uns aufbaut. Von jetzt auf gleich aus dem Hamsterrad herauszukommen ist nicht möglich.

    Ich gebe Ihnen noch ein anderes Beispiel, bei dem die Dreistufigkeit nicht zum Tragen
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