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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Autoren: Michael Winterhoff
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es so schwer, »runterzukommen« und Ruhe zu finden? Verantwortlich dafür ist ein ganz wichtiger Mechanismus in unserer Psyche: Sie baut unbewusst Schutzmauern auf, um das einmal erreichte Niveau zu halten. Für die Psyche ist der Katastrophenmodus weder negativ noch positiv, er ist einfach nur ein Niveau, das durch die äußeren Umstände entstanden ist und das nach Möglichkeit erhalten bleiben soll, weil die Psyche stets nach Stabilität verlangt. Welche Auswirkungen das Niveau, auf dem sie sich stabilisiert, für den Menschen im konkreten Leben hat, ist dabei völlig uninteressant; es geht nur darum, ein gewisses Gleichgewicht zu erhalten – und um das zu
schaffen, bildet sie Widerstände wie Schutzmauern, die eine Bewegung auf ein anderes Niveau verhindern sollen. Und genau deshalb können auch Ratgeber oder Ähnliches, wie oben beschrieben, völlig wirkungslos bleiben, weil die Psyche sich durch die eigenen Widerstände permanent selbst stabilisiert.
    Ein Beispiel aus dem Alltag macht verständlich, dass die Psyche immer eine Tendenz hat, sich auf einem einmal erreichten Niveau zu halten.
    Der April 2011 war ein verhältnismäßig warmer und sonniger April, auch wenn es nicht unwahrscheinlich (und in den Vorjahren ja auch geschehen) ist, dass im April noch Schnee fallen kann und die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken. Nach einigen schönen Tagen waren wir aber kaum noch in der Lage, uns vorzustellen, dass das Wetter auch schlechter sein könnte. Innerlich hatten wir auf Sommer umgestellt. Man sieht das immer sehr schön am Kleidungsmix der Menschen. Sind die T-Shirts und Sandalen erst mal aus dem Schrank geholt, werden sie oft auch noch getragen, wenn das Wetter plötzlich wieder umgeschlagen ist.
    Bei langjährig antrainierten Lebensgewohnheiten greift ein solcher Mechanismus von »Schutzmauern« noch sehr viel stärker. Somit wird unsere Psyche nie dafür sorgen, dass wir das Hamsterrad verlassen, sondern sie akzeptiert irgendwann das Hamsterrad als das Niveau, das es zu erhalten gilt. Versuchen wir nun, bewusst etwas dagegen zu unternehmen, auszusteigen, ist das für die Psyche ein Zeichen, dass ihr Niveau in Gefahr ist, und sie sendet »Widerstandssignale« aus, wie folgende sehr lebensnahe Beispiele zeigen: Wollen wir spazieren gehen, ist vielleicht das
Wetter zu schlecht, wollen wir uns in den Liegestuhl setzen, ist nach kurzer Zeit die Sonne zu grell, wollen wir ein Buch zur Hand nehmen, gibt es tausend Dinge, die vorher erledigt werden müssen. Und am schlimmsten wäre es, wenn wir versuchen würden, einfach gar nichts zu tun. Wenn wir in dem Moment zum Buch greifen, weil wir merken, dass wir das Nichtstun nicht aushalten, fungiert für die Psyche auch die Lektüre als Schutzmauer zur Erhaltung des Stressniveaus.
    Dazu passt die heute moderne Tendenz, Arbeitszeit und Freizeit nicht mehr so stark zu trennen. Oder wie der Chef einer Schweizer Wirtschaftszeitschrift es formuliert:
    »Auf den folgenden Seiten [gemeint ist die Ausgabe, aus deren Editorial dieses Zitat stammt] fallen eine ganze Menge der früher definierten Grenzen: zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, zwischen Erwerbstätigkeit und Ruhestand. Man weiß nicht mehr genau, wo ein Unternehmen aufhört oder wo sich ein Arbeitsplatz befindet. Jede dieser Entgrenzungen ist ein Argument mehr, um sowohl im Wortschatz als auch im Kopf die Grenze zwischen Arbeit und Leben zu beseitigen.« 34
    Das klingt für Theoretiker im Bereich von Arbeitsmodellen und moderner Lebensführung alles erst mal ganz gut. Für die Psyche sind diese »Entgrenzungen« aber mehr als grenzwertig. Wenn alle Grenzen fallen, muss es immer weitergehen. Auf der Titelseite des genannten Heftes beschwört man
den Weg in die »Tätigkeitskultur«. Das mag gut gemeint sein und dem Trend zu neuen Modellen der Lebensführung Rechnung tragen. Psychisch gesehen wird es einen anderen Trend befeuern, eben den, um den es mir geht. Bei diesem unbewusst gesetzten Trend bedeutet »Tätigkeitskultur« eine Kultur des ständigen Hochdrehens. Der moderne Mensch lebt online und ist stets tätig. Zeit für Stressabbau? Fehlanzeige …
    Was können wir dagegensetzen? Lassen wir dazu noch einmal die Sängerin Annett Louisan zu Wort kommen. Im Song »Die Trägheit« heißt es im Refrain:
    »Ich les heut keine Zeitung
Ich hab heut keine Meinung
Bin außer Dienst gestellt
Heute dreht die Welt
Mal eine Runde ohne mich
Dreht sich ohne mich«
    Das ist in
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