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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Autoren: Michael Winterhoff
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investierten einen Großteil ihrer Energie in die Optimierung des »Zeitmanagements« ihres Nachwuchses. An anderer Stelle habe ich erklärt, dass dieses Vorgehen im Hamsterrad dazu dient, dieses weiterlaufen
und immer schneller drehen zu lassen. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied.
    Kästner beschreibt eine Kindheit und Jugend vor rund hundert Jahren. Manches Mal hat man bei so einer Passage das Gefühl, sie leicht an heutige Verhältnisse anpassen zu können. Schule, Sport, Hausaufgaben, Verabredungen zum Spielen, andere Termine, es ist nicht so, dass beim kleinen Erich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr Leerlauf geherrscht hätte als bei einem durchschnittlichen Kind des Jahres 2011.
    Ein entscheidendes Element fehlt in dieser Beschreibung: Eltern kommen dort nicht vor. Keine Mama, die Erichs Tagesablauf straff durchorganisiert, ihn zu sämtlichen Terminen begleitet und darüber wacht, dass der Zeitplan eingehalten wird. Kästners »Termine« ergeben sich mehr oder weniger von selbst aus den Anforderungen, die der Alltag eben so stellt. Es ist keine Frage, dass der Junge zur Schule muss, die Hausaufgaben erledigt werden wollen, und auch der Sport gehört um die vorletzte Jahrhundertwende noch zum durchaus üblichen Programm.
    Das alles hat vor allem eins: eine gewisse Selbstverständlichkeit, die keiner äußeren Organisation bedarf. Kästners Eltern (bzw. die seiner Altersgenossen zu jener Zeit) hätten eingegriffen, wenn die Schule geschwänzt oder die Pflichten im Rahmen der Familie (einkaufen) nicht erledigt worden wären. Das hätten sie als ihre Aufgabe als Erwachsene angesehen, ohne das theoretisch unterfüttert zu haben. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, weil sie Erwachsene sind und die Kinder eben Kinder.
    Der volle Terminplan von heute ergibt sich aber nicht mehr von selbst. Immer mehr Eltern haben über allem
einen Masterplan stehen, der für optimale Förderung sorgt. Und darüber hinaus sorgt die Einhaltung dieses Plans natürlich auch dafür, dass der Erwachsene im Hamsterrad bleiben kann. Denn mit dem Hinterherhecheln hinter diesem Terminplan, mit dem Kutschieren der Kinder zu sämtlichen Terminen ist natürlich auch jede Menge Stress und Hektik verbunden. Kaum ist das Kind irgendwo, sagen wir: beim Tennistraining, abgeliefert, muss schon überlegt werden, wie es weitergeht, etwa, wann man es zu welchem Freund zum Spieltermin bringen muss. Kästner wäre vom Turnen einfach nach Hause gelaufen, um zu überlegen, wie man gegen die gefürchtete Hechtbande vorgehen kann. Und wenn die grade keine Lust auf Streit gehabt hätte, hätte sich schon irgendein Hinterhof mit irgendwelchen anderen Kindern gefunden, um sich zu beschäftigen.
    Der Unterschied liegt also nicht in einem »Früher war alles besser«. Die Erziehungsmethoden im Kaiserreich waren aus heutiger Sicht bestimmt aus vielen Gründen nicht kindgerecht. Der Unterschied liegt in der Trennung von Kinderwelt und Erwachsenenwelt. In der Selbstverständlichkeit, mit der Kinder Kinder waren und nicht von den Erwachsenen vereinnahmt wurden, um aus falsch verstandener Partnerschaftlichkeit letztlich das Gleiche zu tun wie diese.
    Es wird derzeit oft darüber geschrieben, dass Kindheit heute auf vielfältige Weise bedroht sei. Dabei wird immer von bewussten Verhaltensweisen auf Seiten der Erwachsenen ausgegangen. Das jedoch führt letztlich nur dazu, dass Schuld zugewiesen wird. Dann sind die Erwachsenen (oder eine bestimmte Gruppe) schuld, dass es Kindern nicht gut
geht, falsche Erziehung wird als Grund angeführt, ein falsches Weltbild kritisiert. Bei all diesen Diskussionen dreht man sich letztlich immer im Kreis. Oft werden Einzelfälle instrumentalisiert und verallgemeinert, um zum Teil ideologisch gefärbtes Gedankengut allgemein durchzusetzen.
    Hinter den Problemen der emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen einen unbewusst ablaufenden Katastrophenmodus in der erwachsenen Psyche zu sehen, ist dagegen ein neuer, ein ganz anderer Ansatz.
    Es ist ein Ansatz, der zunächst einmal alle entlastet – und bei dem im zweiten Schritt deutlich wird, dass das Problem grundsätzlich lösbar ist und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft damit nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird.
    Wir können nicht von heute auf morgen unsere Gesellschaft auf den Kopf stellen und alles verändern. Gesellschaftskritik ist gut und notwendig, und sie wird von vielen klugen Köpfen formuliert und in die Diskussion gebracht. Mir
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