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Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland

Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland

Titel: Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland
Autoren: Tamara Domentat
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phasenweise ihr Budget mit Sex aufbesserten. Dem in alle Richtungen ausufernden Gewerbe waren die Kontrollmechanismen der traditionellen Rotlichtkieze nicht länger gewachsen.
     
    Schließlich setzen Abhängigkeit, Einschüchterung und Gewalt eine gewisse physische Nähe voraus. Doch in den siebziger und achtziger Jahren mußten Kiezfürsten und Zuhälter erleben, wie das Gewerbe sich außerhalb ihrer Einflußsphären breitmachte, zusehends von feministischem Gedankengut unterwandert wurde und gänzlich neue Standards der Sexarbeit definiert wurden: Freiwilligkeit statt Zwang: Die Frauen arbeiten bewußt und aus eigenem Antrieb und nicht, weil jemand sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen zur Prostitution überlistet bzw. gegen ihren Willen oder ihr Ehrgefühl dazu nötigt. Persönliche Freiheit und Wahlmöglichkeiten statt Sklaverei:
    Sie können sich frei bewegen, befinden sich weder persönlich noch als Arbeitskraft in existentiellen Abhängigkeiten und werden nicht als Ware verkauft. Sie entscheiden, ob sie autonom oder in arbeitnehmerartigen Verhältnissen arbeiten wollen, und können ihre Arbeitsbedingungen (mit) gestalten. Arbeitgeber statt Zuhälter: Der Bordellalltag wird von Menschen organisiert, die sich an den Gepflogenheiten und zivilen Umgangsformen regulärer Arbeitgeber orientieren. Häufig haben die Betreiberinnen von Bordellen und Agenturen eigene Prostitutionserfahrungen. Arbeitnehmerrechte statt Dirigierbarkeit:
    Die Frauen können frei entscheiden, an welchen Tagen sie arbeiten, welche Dienstleistungen sie erbringen und ob bzw. wann sie aus der Prostitution aussteigen wollen. Niemand zwingt sie, z. B. ohne Kondome zu arbeiten, bei extremer Witterung auf der Straße zu stehen oder sieben Tage lang 12-Stunden-Schichten zu ertragen. Faire Abgabepolitik statt Ausbeutung:
    Anstatt wie im Rotlichtmilieu üblich zwischen 80-100% der erwirtschafteten Honorare an einen Zuhälter bzw. andere Profiteure abzuliefern, zahlen die Frauen meist Abgaben in Höhe von 30-50%, aus denen die Betreiber von Bordellen, Studios oder Agenturen ihre Unkosten wie Miete, Werbung, Reinigung, Telefon etc. decken.
    Milieuferner Arbeitsplatz statt kriminelles Umfeld: Im Umfeld des Arbeitsplatzes gibt es keine Begleitkriminalität bzw.
    Querverbindungen zu organisiertem Frauen-, Waffen-oder Drogenhandel. Selbstbestimmte Kundenpolitik statt »Der Kunde ist König«:
    Die Frauen haben das Recht, Freier abzulehnen, ihre eigenen emotionalen und physischen Grenzen zu definieren, z. B. auf Kondombenutzung zu bestehen oder bestimmte Dienstleistungen abzulehnen. Ausleben eigener Lust statt passives Lustobjekt: Während es in der Rotlichtprostitution als professionell galt, die eigene Libido konsequent von der Dienstleistung zu trennen, z. B.
    keine Küsse auf den Mund zuzulassen, können sich die Frauen in der neuen Sexarbeit sinnlich und sexuell ausleben, ohne sich als unprofessionell abgestempelt zu fühlen. Im Gegenteil: Dienstleistungen wie z. B. erotische Massagen oder dominante Rollenspiele profitieren vom Abgleichen eigener sexueller Energien mit denen des Gegenübers.
    Fließende Grenzen zwischen Geschäfts-und Privatbeziehungen statt erzwungene Distanz zum Kunden:
    Wenn die Grenzen zwischen kommerziellen und privaten Lustsphären aufweichen, können aus Kundenbeziehungen private Liebesbeziehungen und sogar Ehen entstehen, ohne daß Dritte diese Entwicklung hintertreiben. Anders in der klassischen Rotlichtprostitution: Zuhälter, die mit gehandelten Frauen arbeiten, tauschen diese oft regelmäßig aus, damit sie keine Bindungen zu Stammkunden entwickeln und leichter zu kontrollieren sind.
     
    Und so zeichnet sich seit zwei, drei Jahrzehnten in weiten Teilen der Sexarbeit ein klarer Paradigmenwechsel ab: weg von der Lustsklaverei, hin zu normalisierten, humanisierten, selbstbestimmten Arbeitsplätzen. Dieser gewerbeinterne Quantensprung mußte das Klischee von der Prostitution als sozialem Problem zwangsläufig in Frage stellen. Nicht nur im Hinblick auf das Ansehen der Branche macht es einen Unterschied, ob die Sexarbeit als Sammelbecken problematischer Frauenbiographien betrachtet wird oder als eine Form der Erwerbstätigkeit, die durch unterschiedliche Arbeitsbedingungen ihr spezifisches Gesicht erhält. Letztere Sichtweise gesteht den Frauen Handlungskompetenzen und Entscheidungsfreiräume zu. Und wenn aus Opfern Akteure werden, kann sich vieles verändern.
     
    Klischee Nr. 3:
    Prostitution ist grundsätzlich
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