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Lanzarote

Lanzarote

Titel: Lanzarote
Autoren: Michel Houellebecq
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streng kodiertes Verhalten bedeuten“, ist das moderne Individuum in einem System unterwegs, das ihm „auf eindeutige Weise einen Tauschwert zuweist“. Die Architektur, die Medien, die Musik, die universelle Ironie in Werbung und Kunst alles dient nur dem Zweck, den Menschen von der alten Starrheit zu befreien, damit er im sozialen Supermarkt einen Platz auf den griffnahen Regalen fndet. In der etwas simplen Logik des Anbaggerns, die Houellebecq in schöner Ehrlichkeit und schelmisch angewiderter Pose als auch die seine offen legt, heißt das: Schöne Menschen besitzen einen hohen Tauschwert, hässliche Menschen einen geringen. Menschen verhalten sich zueinander und zu sich selbst als erotische Waren; sie tragen ein Verfallsdatum aufgestempelt durch Faltenbildung und Bauchumfänge; nach dessen Ablauf sind sie wertlos. Je näher sie dem Ablauf ihrer Restattraktivität rücken, umso panischer verramschen sie sich im promiskuitiven Sex.
    In „Elementarteilchen“ geht die Selbstverschleuderung tödlich aus: Christine treibt es im Swingerclub bis zur Querschnittslähmung. Tauschwertlos geworden, bringt sie sich um. Ein Vorschlaghammer ist gegen diese literarische Methode ein zartes Instrument; Houellebecqs Figuren sind zur grellsten Umsetzung von Thesen verdammt, weil er ihnen keine inneren Widersprüche gönnt.
    Bei Sartre war die Hölle noch die Augen der anderen, bei Houellebecq ist deren Blick mit dem eigenen identisch. Es gibt dort nicht einmal Eitelkeit: Eigenartigerweise wissen Houellebecqs Figuren über die Höhe ihres Tauschwerts genau Bescheid. Er bemisst sich nämlich ausschließlich nach den erwiderten Blicken, letztlich nach der Zahl der sexuellen „Freischüsse“: „Gewöhnlich geht man davon aus, dass der Mann die Penetration braucht, um die gewünschte narzisstische Befriedigung zu erlangen. Er spürt dann etwas, das dem Klappern der Freispiele bei alten Flipperautomaten entspricht. Die Frau begnügt sich meist mit der Gewissheit, dass man in sie einzudringen wünscht.“
    Reicht ein „gewöhnlich geht man davon aus“, also wiederum ein „allgemeiner Erkenntnisstand“, zur Fundierung eines literarischen Charakters aus? Houellebecqs meint ja; in der Essaysammlung fnden sich einige Ansätze zur Begründung der Romanfgur als didaktisch-soziologische Handpuppe. In der „Welt als Supermarkt“, dem Erlebnispark fexibler Identitäten, gibt es nämlich keine glaubhaften Romancharaktere mehr. Der Mensch als fester Charakter löse sich allmählich auf, ebenso sein Gefühl, eine halbwegs zusammenhängende Lebensgeschichte zu besitzen: Der moderne Single lebe nur „von Zeit zu Zeit“. Wenn sich aber Charaktere und Geschichten aufösen, dann besitzen die Figuren eines Romans keine Widerstände mehr gegen die Absicht, die ein Autor mit ihnen verfcht. Houellebecq drückt es vornehmer aus: „Aus diesem Grund ist es schwierig geworden, einen Roman ohne Klischees zu schreiben, in dem es dennoch eine romaneske Entwicklung gibt. Ich bin mir nicht sicher, eine Lösung gefunden zu haben. Ich habe den Eindruck, dass ein Ansatz darin besteht, dem Romanstoff brutal Theorie und Geschichte zu injizieren.“
    Doch brutale Injektionen ergeben keine tragfähige Theorie. Sie sind nur der eingespritze Kitt, um wacklige Zähne zu halten. Das dauernde Hin-und Her-Springen zwischen abstrakter Theorie und literarischer Fiktion, wann immer das eine oder andere eigentlich eine neue Komplexionsstufe erheischen würde, lässt Houellebecqs Gestalten ohne innere Widerstände ins Totalitäre und Monströse wachsen: Charaktermasken des verinnerlichten Neoliberalismus. Weil die Romanfguren keine Psyche, sondern nur eine These besitzen, sind sie literarisch lebensunfähig: Houellebecq lässt sie sterben, sobald die Liebe beginnt und die Lage kompliziert wird. Umgekehrt ist Houellebecqs Theorie schwach, weil sie immer dann, wenn es widersprüchlich wird, zur Literatur oder zum „für gewöhnlich“ wechselt. Wenn man Houellebecq bei Diskussionen reden hört, hat man den Verdacht, er sei so traurig, weil er sich selbst auf den Leim gegangen ist. Und weil er so traurig ist, schreibt er Gedichte. „Wenn ich Gedichte schreibe, dann vor allem um die Betonung auf einen monströsen und globalen Mangel zulegen (den man als Mangel an Affektion, an Sozialem, an Religion oder an Metaphysik defnieren kann, und jeder dieser Ansätze wäre wahr).“ Den größten Mangel hat er nicht genannt. Es ist der Mangel an genauem und geduldigem Hinsehen, es
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