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Lange Finger - flinke Beine

Lange Finger - flinke Beine

Titel: Lange Finger - flinke Beine
Autoren: Wolfgang Ecke
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weiß. Angeblich hatte Kaiser vor, eine wichtige Aussage zu machen.«
    Der Pfarrer nickte. »Ja, und niemandem schien es der Mühe wert, diesem Hinweis mit entsprechendem Nachdruck nachzugehen. Für Boransky besteht nicht der allergeringste Zweifel daran, daß Kaiser erhängt wurde. Nun ja, für die Staatsanwaltschaft ist das Thema vom Tisch. Nichts ist bequemer als eine geschlossene Akte.«
    Dr. Höfers Stimme klang nachsichtig: »Ihr Sarkasmus und Ihre Bitterkeit richten sich an die falsche Adresse, lieber Herr Pfarrer. Vergessen Sie nicht, daß ich es war, der eine genaue Untersuchung forderte.«
    »Ja ja...« Hennemann nickte. »Niemand macht Ihnen einen Vorwurf... Wenn ich Boransky auf seine Freilassung anspreche, bekommen seine Augen immer einen eigenartigen Glanz.«
    »Was erwarten Sie, Herr Pfarrer? Es ist doch normal, daß er sich freut.«
    »Es ist kein Glanz, der Freude ausstrahlt, Herr Doktor Höfer. Es ist ein kalter, beherrschter Glanz, der bewußt macht, daß sich hinter ihm ein Geheimnis verbirgt. Vielleicht ein sehr gefährliches Geheimnis. Nur einmal hob sich für mich der Vorhang, der seine wahren Empfindungen verdeckt. Das war, als ich ein Bibelwort zitierte und er mit einem ebensolchen antwortete: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Da blitzte es auf in seinen Augen, nur für den Bruchteil eines Atemzuges. Aber was da aus seinen Augen sprach, war eiskalter, unversöhnlicher Haß, der mich frösteln ließ.«
    »Gegen wen sollte sich solcher Haß richten? Gegen die Gesellschaft? Den Staat? Die Exekutive?«
    »Ich glaube eher, daß sich dieser Haß gegen eine Einzelperson richtet. Vielleicht auch gegen eine bestimmte Gruppe... Nein!« Hennemann schüttelte kurz und heftig den Kopf. »Nicht Gruppe, doch wohl Einzelperson.«
    »Aber er hat sich nie dazu geäußert. Nie eine solche Person beim Namen oder der Funktion genannt.«
    »Nein. Ich bedaure sehr, daß wir keine Möglichkeit haben, entlassene Strafgefangene in ihrem eigenen Interesse im Auge zu behalten.«
    Dr. Höfer versuchte ein Lächeln. »Die Betroffenen denken darüber wohl etwas anders. Abgesehen davon sollten Sie nicht vergessen, daß es eine Menge Organisationen und Institutionen gibt, die sich mit der Fürsorge um entlassene straffällig Gewordene befassen. Und über eines sollten wir uns ebenfalls im klaren sein, lieber Herr Pfarrer: Hat ein Mann nach seiner Entlassung vor, seinen Wiedereintritt ins normale Leben mit einer neuen Straftat zu beginnen, so werden weder Sie noch ich ihn davon abhalten können. Das mag nach Resignation klingen, bleibt jedoch nüchterne Realität.«
    »Aber die Resozialisierung...«
    Dr. Höfer winkte ab. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich unterbreche. Ein kluger Kopf hat behauptet, Resozialisierung könne nur dort erfolgreich vonstatten gehen, wo sie sich ohne behördliche Krücken entwickle und wo sie seitens des Betroffenen gewünscht wird. Ich stimme dem zu. Was haben Sie eigentlich über die Angehörigen erfahren?«
    »Sein Vater kam vor zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben. Seine Mutter heiratete drei Jahre später wieder. Einen Finanzbeamten. Es gab auch noch einen Bruder, aber der ist seit sieben Jahren verschollen. Die letzte Nachricht stammte aus Mittelamerika, wo er als Entwicklungshelfer tätig war. Alle Nachforschungen verliefen im Sande.«
    »Haben Sie ihn gefragt, wohin er von hier aus gehen will?«
    »Ja, öfters. Geantwortet hat er mir nur einmal. Er sagte: Es wird ein kühler Wind sein, der mich abholt und in die richtige Richtung bläst.«
    Das Klingeln des Telefons auf Höfers Schreibtisch nahm Pfarrer Hennemann zum Anlaß, sich zu erheben.
    »Sehen Sie nicht zu schwarz«, meinte Höfer, als er seinem Besucher zum Abschied die Hand schüttelte.
    Hennemann hatte die Worte noch im Ohr, als er bereits das Tor passierte. Waren seine Erwartungen zu hoch geschraubt gewesen? Was hatte er erwartet? Hilfe? Verständnis? Geteilte Besorgnis? Sah er wirklich zu schwarz?
    »Es muß mir was einfallen...«, murmelte er auf dem Weg zum Parkplatz. »Es muß mir was einfallen...«

2. Kapitel

    Der 9. Mai, ein Montag, war ein herrlicher, sonnendurchfluteter Maitag.
    Die eiserne Seitentür fiel nicht laut krachend hinter Olaf Boransky ins Schloß, sondern leise, mit einem kaum hörbaren Knirschen. Fast diskret.
    Der ehemalige Häftling Boransky lehnte sich gegen die Mauer, schloß die Augen und ließ sich die wärmende Sonne ins Gesicht scheinen. Wie ein Kinostreifen rollte die letzte Stunde vor seinem
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