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Lange Finger - flinke Beine

Lange Finger - flinke Beine

Titel: Lange Finger - flinke Beine
Autoren: Wolfgang Ecke
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geistigen Auge ab. Das Verabschieden bei jenen, bei denen man sich verabschieden mußte. Mußte? Bei denen man es tat. Ohne viel zu überlegen.
    Ungerührt hatte er die Allgemeinplätze der guten Ratschläge, Empfehlungen und Warnungen über sich ergehen lassen. Die routinemäßigen ebenso wie die, von denen er wußte, daß sie vom Gefühl eigener bitterer Erfahrungen diktiert wurden.
    Auch die Feststellung des Asservatenverwalters, daß die zweitausend Mark, die er bei seiner Verhaftung bei sich trug und die vom legalen Verkauf einer vom Großvater geerbten Taschenuhr stammten, nur noch die Hälfte wert seien, konnte ihn nicht beeindrucken.
    Olaf Boransky sog den Mai ein, der nicht anders roch als im Gefängnishof und doch so ganz anders war.
    Er öffnete die Augen, begann zu sehen und zu gehen. Langsam, gemächlich schlendernd. Er genoß das Geradeauslaufen, das Nicht-kehrt-machen-Müssen vor dem schallschluckenden Mauerwerk, der ständig dünner und dumpfer werdenden Luft, je näher man sich der steinernen Barriere näherte.
    Er passierte bereits die dritte Omnibushaltestelle, als er noch immer nach der Antwort auf die Frage suchte, warum der Pfarrer sich seinen Auszug hatte entgehen lassen. Olaf Boransky wußte, daß er sich selbst belog, mit dem Abwinken, dem gedachten »na, wennschon!« Er versuchte, sich seine Enttäuschung einzugestehen. War es seine so offen und aggressiv demonstrierte Kühle dem Gottesmann gegenüber, die diesen fernbleiben ließ?
    Oder war er erkrankt?
    Es hatte ihn, Boransky, viel Mühe gekostet, seine Zuneigung für Pfarrer Hennemann zu verbergen, sich ihm nicht mitzuteilen. Sich zu zwingen, seine geheimsten Gedanken verschlossen zu halten, obwohl sie ihm manchmal den Atem zu nehmen schienen.
    Doch die Zeit hatte seinen Haß geordnet, ihn überschaubar und berechenbar gemacht. Ja, berechenbar. Nichts und niemand würde ihn davon abbringen können, diese Rechnung zu begleichen.
    Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte, und ebenso unwillkürlich wandte er sich um, sah zurück, obwohl er sich geschworen hatte, keinen Blick an das Monument seiner jüngsten Vergangenheit zu verschwenden. Die vierte Haltestelle tauchte vor ihm auf.
    Zehn Minuten mußte er warten. Gemeinsam mit einer alten Frau, die, flankiert von zwei Körben, zwei Drittel der Bank besetzt hielt und leise Selbstgespräche führte. Sie schien mit jemand zu streiten, denn zwischen den Phasen eigenen Gemurmels lag immer eine Strecke aufmerksamen Rauschens. Von ihrem Nachbarn nahm sie keinerlei Notiz.

    Die hektische Betriebsamkeit des Stadtzentrums verursachte bei Olaf Boransky sehr zwiespältige Empfindungen. Manchmal kam es ihm vor, als versuche er verzweifelt, auf einer nach unten fahrenden Rolltreppe nach oben zu kommen. Dann wieder fühlte er eine unbeschreibbare Euphorie.
    Und mitten hinein in ein solches Gefühl von Hunger nach Leben wurde er von einer Vision heimgesucht: Unter all den vielen Köpfen vor und neben sich glaubte er im Spiegel eines Schaufensters einen grauen Haarschopf gesehen zu haben. Hastig wandte er sich zur Seite, drückte sich durch eine Gruppe von Passanten und sah sich dann ratlos nach allen Seiten um.
    Vergeblich...
    Sollte er schon unter Halluzinationen leiden?
    Die eben noch genossene Unbeschwertheit machte gespannter Aufmerksamkeit Platz.
    Mit den Augen ständig auf der Suche nach Wiederholungen jener Vision, machte er sich auf den Weg zum Bahnhof. Über siebenhundert Kilometer lagen zwischen ihm und seinem Ziel.
    Er durchquerte die Bahnhofshalle und ging auf einen der großen Schaukästen mit den Abfahrtszeiten zu. 11.50 Uhr, Bahnsteig 16.

    Diesmal wußte Olaf Boransky, daß es keine Vision war. Er stand ihm gegenüber und gab sich Mühe, das um Entschuldigung bittende Lächeln zu ignorieren.
    »Gehen wir zusammen einen Kaffee trinken, Herr Boransky?«
    11.50 Uhr, Bahnsteig 16. Es blieb noch über eine Stunde Zeit.
    Boransky nickte.
    Das kleine Café vis-à-vis war nur mäßig besetzt.
    Pfarrer Hennemann steuerte einen kleinen Tisch in der hintersten Ecke an. Er bestellte bei der Bedienung, einer mürrisch dreinblickenden Mittvierzigerin, zwei Portionen Kaffee, fuhr sich durch seinen grauen Haarschopf und setzte sich.
    Boransky, der bis zu diesem Augenblick noch kein Wort gesagt hatte, tat es ihm nach.
    »Warum verfolgen Sie mich, Herr Pfarrer?«
    »Verfolgen, welch ein großes Wort. Ich bin Ihnen äußerst stümperhaft nachgegangen.«
    »Und warum und wozu? Ich bin ein freier Mann, ich
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