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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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dann wurden sie eingesammelt. Wir lebten im Kinderblock in einer Art geschütztem Raum, aber nachts schliefen wir bei den Eltern, ich bei meiner Mutter. Jeden Morgen war ich diesem Anblick ausgesetzt. Ich ging schnell daran vorüber. Aber diese Bilder sind mir geblieben.
    Viele andere Dinge sind mir nicht geblieben. Wenn ich die Welt von Auschwitz und ihre Realität betrachte – als Junge von zehn Jahren habe ich diese scharfe, brutale, zerstörerische Dissonanz und Pein wohl nicht gespürt, die jeder erwachsene Häftling erlebte, der aus seiner Welt der Kultur mit ihren Normen herausgerissen worden war und in eine Konfrontation mit den Normen der Grausamkeit und des Todes geworfen wurde. Diese Konfrontation, die jeder Häftling, der am Leben blieb, durchlebte und die fast immer einen Teil des Schocks ausmachte, der ihn oft schon nach kurzer Zeit niederstreckte – sie existierte für mich nicht. Denn das war die erste Welt und die erste Lebensordnung, die ich kennenlernte: die Ordnung der Selektionen und der Tod als einzige Gewissheit, die die Welt regiert. All dies waren beinahe selbstverständliche Dinge. Ich sage nicht, dass ich mich nicht sehnte, plötzlich einfach nach Hause zurückzukehren in die Sicherheit und in die Freiheit, die ich verloren hatte, deren Verlust ich schon in Theresienstadt empfunden hatte, wenn ich auf den Mauern der Kasematten stand und auf die blauen Landschaften in der Ferne schaute, die unerreichbar geworden waren. Anders als in Theresienstadt, war hier jedoch völlig klar, dass keiner je lebend rauskommen würde. Der Tod war eine elementare Gegebenheit, deren Herrschaft über jeden von uns nicht in Frage gestellt werden konnte.

    Abb. 13
    Wie gesagt, diese scharfe Konfrontation existierte für mich nicht in derselben Form, zumindest nicht in jener Baracke des Kinderblocks. Dort begegnete ich zum ersten Mal der Geschichte, beinahe zum ersten Mal der Musik und auch dem Tod. Auch den Skeletten und auch den Selektionen, die wir aus der Ferne sahen. Und wir wussten Bescheid. Und auch solche Bilder hielten uns gefangen, beunruhigten uns, gehörten aber zu unserem Alltag: die Bilder, vor allem gegen Abend, wenn der Himmel langsam dunkel wurde und wir zu den Krematorien schauten, die still und stetig brannten, die einige Meter hohen Flammen, die aus den roten Backstein-Schornsteinen aufschossen, und der Rauch, der über diesen Flammen emporstieg, und dann dieses Rätsel, das mich und wohl uns alle beschäftigte: Wie geschieht es, dass das Leben, das massenhaft in langen Schlangen dort hineinströmt und von diesen Gebäuden aus rotem Backstein mit den schrägen Dächern verschluckt wird, dass dieses Leben zu Flammen wird, zu Licht und Rauch, sich auflöst und in demselben Himmel verschwindet, der langsam dunkel wird? Und auch im sternenübersäten Nachthimmel brennt das Feuer still weiter. Das gehörte zum Alltag. Und dennoch, das Rätsel des Lebens, eine Wissbegierde über solches Leben und Sterben drang irgendwie in uns ein.
    Die Ode an die Freude
    In diesem Lager passierten noch einige sehr außergewöhnliche Dinge. Sie blieben in der einen oder anderen Ecke meiner Erinnerung hängen und wurden ein Teil meiner ganz persönlichen Mythologie. Eine solche Erinnerung – und ich rede jetzt nicht von der Liquidierung des Lagers und von Ereignissen, die das Schicksal aller betrafen, sondern nur von mir selbst –, eine besonders bizarre Episode ist in zwei sehr merkwürdigen Etappen in meinem Gedächtnis hängen geblieben und von diesem wohl weiter geformt worden.
    Im Kinderblock gab es einen Chorleiter. Er hieß, so erinnere ich mich, Imre. 8 Ein großer, gewaltiger Mann. Er stellte einen Kinderchor zusammen, und wir hielten Proben ab. Ich weiß nicht mehr, ob wir auch auftraten (nicht im Rahmen der Opernaufführung, das war etwas anderes). Die Proben fanden fast immer in einem der langen Räume statt, also in einer jener langen Baracken, die den Häftlingen als Waschraum dienten. Es gab dort Leitungen über eine Länge von fünfzig Metern mit eingebohrten Löchern – ein ausgezeichnetes deutsches Patent, dem ich später, nach dem Krieg, als ich in Ostberlin ankam, auf den Toiletten des Bahnhofs Friedrichstraße wiederbegegnete. Der Anblick brachte mich binnen Sekunden zu jenem Ort in Auschwitz zurück. Aber das ist eine andere Sache.
    Diese Baracke hatte eine ausgezeichnete Akustik, natürlich nur, wenn keine Häftlinge drin waren. Morgens oder abends nach der Arbeit drängten sich hier
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