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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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Tausende, aber tagsüber war sie leer. Dort hielten wir in den Herbstmonaten, wir waren im September angekommen, in den Herbst- und Wintermonaten von 1943 unsere Proben ab. Ich erinnere mich vor allem an ein Stück, das wir sangen, und erinnere auch noch den Text: Es ging um Freude und Brüderlichkeit unter allen Menschen; die Worte hinterließen bei mir keinen besonderen Eindruck, und ich bin sicher, ich hätte sie ganz vergessen, wenn es nicht noch eine Szene gegeben hätte, bei der mir das Erlebnis, die Melodie und die Worte wieder einfielen. Etwa ein halbes Jahr später – das Familienlager gab es längst nicht mehr, die meisten Häftlinge waren bereits verbrannt oder als Arbeitssklaven ins ganze Reich verschickt worden, und von den Jugendlichen lebten nur noch ein paar Dutzende, und wir waren ins Männerlager, das große Sklavenlager, verlegt worden –, da kam ich auf abenteuerliche Weise an eine Mundharmonika. Ich lernte sie zu spielen und spielte, was mir eben so einfiel, unter anderem auch eine Melodie, die wir im Kinderchor gesungen hatten. Sie ging ungefähr so:

    In einem jener seltenen Augenblicke der Ruhe im Lager spiele ich diese Melodie, und ein junger jüdischer Häftling aus Berlin kommt zu mir – ich war damals elf Jahre alt – und sagt: »Weißt du, was du da spielst?« Und ich sage ihm: »Was ich da spiele? Diese Melodie haben wir in diesem Lager gesungen, das es schon nicht mehr gibt.« Da erklärte er mir, was ich spielte, was wir dort gesungen hatten und was die Worte bedeuteten. Ich glaube, er versuchte auch, mir das furchtbar Absurde dieser Situation zu erklären, das entsetzliche Staunen, dass ein Loblied auf Freude und Brüderlichkeit unter den Völkern, Schillers »Ode an die Freude«aus der Neunten Symphonievon Beethoven, in Auschwitz vis-à-vis der Krematorien gesungen wird, nur ein paar hundert Meter entfernt von dem größten Hinrichtungsort, von dem größten Brand, den die Menschheit, die dort besungen wird, je erlebte, und das im selben Moment, in dem wir darüber sprachen, und in all den Monaten, die wir dort waren.
    Eigentlich wusste ich da schon, wer Beethoven war, anders als beim ersten Mal, als wir ihn gesungen hatten. Denn zwischen dem Zeitpunkt, als wir im Chor sangen, und dem überraschenden Moment der Entdeckung und des Erkennens der Melodie habe ich mit Diphtherie im Krankenbau gelegen, und über mir lag ein junger Häftling, so um die zwanzig. Er hieß Herbert. Ich glaube, er ist nicht mehr gesund geworden, und wenn doch, dann fand er sein Ende sicher in der Metropole des Todes. Wir beide hatten ein unterhaltsames Spiel, das vor allem er genoss: Er vermittelte und erklärte mir etwas von dem kulturellen Reichtum, den er in seinem Leben angesammelt hatte, und übergab ihn mir gleichsam als Erbe. Als Erstes bekam ich von ihm ein Buch, das einzige, das er besaß, und ich las es. Es beginnt mit der Beschreibung einer alten Frau und eines jungen Mannes, der mit einer Axt auf sie einschlägt, sie ermordet und sich damit quält – Schuld und Sühne von Dostojewski. Das hatte er nach Auschwitz mitgenommen. Es war das erste Werk großer Literatur, das ich las, seitdem ich mit neun Jahren von der elterlichen Bibliothek in der Tschechoslowakei weggerissen worden war. Und es blieb nicht bei Dostojewski. Weiter ging es mit Shakespeare, Beethoven, Mozart, alles, was er nur an europäischer Kultur in meinen Kopf hineinbekam, und ich konnte eine ganze Menge aufnehmen.
    Nachdem mir also klar wurde, dass ich auf der Mundharmonika Beethoven zu Schillers Text spielte, begann ich nachzudenken, und seitdem frage ich mich, was die Beweggründe für diese Entscheidung des Chorleiters gewesen sein mögen, was es jenem Imre bedeutete, den ich bis heute als große, grobschlächtige Gestalt vor mir sehe, in der blaugestreiften Häftlingskluft mit den großen Holzschuhen, mit den riesigen Händen, mit denen er den Chor zusammendrängt und anhebt, und wir singen wie kleine Engel zum lautlosen Brennen der Flammen. Aus der Ferne begleiten unsere Stimmchen die dunklen Kolonnen, die ganz langsam in den Krematorien verschwinden.
    Damals fragte ich mich, und ich frage mich bis zum heutigen Tag, was diesen Imre dazu bewegt hat – nicht, den Kinderchor zusammenzustellen, denn man kann sagen, dass man in diesem Kinderblock ja irgendwie bei Verstand bleiben und uns irgendwie beschäftigen musste –, sondern woran er geglaubt hat. Mit welcher Absicht hat er diesen Text gewählt, einen Text, der als das
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