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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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verstrickt bin, dass hier etwas anders ist. Das ist die Hoffnung, an die ich nicht glaube, die aber immer präsent ist und am Ende Gewissheit wird, voller Angst und Pein, nicht Pein, sondern Grauen und fieberhafter Flucht und fieberhaftem mühevollen Entkommen auf die eine oder andere Weise – und all das kehrt in endlosen Variationen wieder.

    Abb. 15
    In Auschwitz selbst machte ich diese Erfahrung konkret durch, einige Male. Das zweite Mal, als wir, eine Gruppe Jugendlicher, das Lager verließen, wissend, dass die Lagerleitung oft Leute irreführte und in Sicherheit wiegte, um Rebellionsversuche der alteingesessenen Häftlinge zu verhindern, die wussten, was der Weg zu den Krematorien bedeutete. Uns wurde gesagt, dass wir das »Sauna-Lager« durchlaufen müssten, ein Lager, in dem Körper und Kleidung der ankommenden Häftlinge desinfiziert wurden, und dann sollten wir ins zentrale Männerlager kommen. Wir verließen unser Lager und gingen nach links – es war das erste Mal, dass wir durch die Lagertore gingen – und näherten uns einem der Krematorien. Unsere Anspannung war gewaltig, unermesslich. Das Gefühl, dass das unabänderliche Gesetz der Liquidation, der Auslöschung an uns vollzogen werden würde, war überwältigend, übermächtig und beherrschte uns alle. Die Hoffnung, dass wir vielleicht doch nicht getäuscht worden waren, bestand. Sie war brennend, fiebernd und doch sehr zögerlich, und mit jedem Schritt, der uns dem Krematorium näherbrachte, wuchs das Grauen. Die schwarzen Tore, die Zäune, über die man nicht hinaussehen konnte, alles war überaus furchteinflößend. Die Häftlinge, die aus allen Teilen Europas kamen, standen und warteten stundenlang. Wenige wussten, was sie erwartete – aber wir wussten. Wir wussten alles über diese »Industrie«.

    Abb. 16
    Wir betrachteten die Schornsteine eines der Krematorien dort. Schritt für Schritt kamen wir näher. Diese Urerfahrung des lauernden Grauens, ihm ausgesetzt zu sein, von ihm verschluckt zu werden – sie blieb gegenwärtig. Sie, und nicht die Erleichterung, das überwältigende Gefühl der Erleichterung, als wir das Tor hinter uns ließen und in Richtung »Sauna-Lager« weiterliefen und es betraten und durch die Fenster sogar in die Krematoriumsanlage hineinsehen konnten – an all das erinnere ich mich irgendwie, aber diese Erfahrung hat sich im Gedächtnis nicht erhalten. Die Urerfahrung ist das stets wiederkehrende Trauma, das das unabänderliche Gesetz des Großen Todes wie eine hochkonzentrierte Essenz einkapselt. Ein Gesetz, das für jeden von uns galt und an jedem Einzelnen vollzogen werden wird. Damit zu ringen, mit der hoffnungslosen Aussichtslosigkeit, und sich dennoch verzweifelt zu bemühen, ihm zu entkommen, wie ich es dort versucht habe, war eine prägende Erfahrung.
    Der Kleine Tod und das Leben jenseits des Todes
    Eine ganz andere Begegnung mit dem Tod in Auschwitz bestand in einer Art Steigerung, wenn man das so nennen kann, einer unabsichtlichen Zuspitzung der Mutproben, der Spiele, bei denen es darum ging, den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun zu berühren. Sie ereignete sich im Oktober 1944. Zu der Zeit war ich bereits im Männerlager zusammen mit meinem Vater, arbeitete als Gehilfe für das »Schlosserkommando«, zu dem mein Vater gehörte. Jeden Tag nach der Arbeit reichte ich meinem Onkel einen kleinen Metallbehälter mit Suppe durch den Stacheldrahtzaun. Der Onkel, der Bruder meiner Mutter, war aus Theresienstadt angekommen und befand sich in einem benachbarten Lager. So war es auch an diesem Tag, gegen Abend. Aber an diesem Tag brach unter den Häftlingen des »Sonderkommandos« in einem der Krematorien ein Aufstand aus, ein Ereignis, das auch für mich verhängnisvoll sein sollte. Die Häftlinge rebellierten, setzten das Krematorium in Brand und versuchten zu fliehen. In solchen Fällen wurde der Stacheldrahtzaun elektrisch geladen. Natürlich erfuhr ich von all dem erst später.
    Wie jeden Tag reichte ich den Behälter mit der Suppe durch den Zaun, und in einem unvorsichtigen Moment berührte ich dabei den Stacheldraht. Ich fühlte die Schläge durch meinen ganzen Körper rasen, ich klebte am Zaun fest. Ich war erstarrt, aber fühlte mich einige Zentimeter über dem Boden schweben. In diesem Moment verstand ich sehr wohl, was geschehen war – ich hing im elektrischen Zaun. Gefangen. In diesem Moment war mir klar, dass ich tot war, denn es war bekannt, dass jeder, der sich im Zaun verfängt, auf der Stelle
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