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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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stirbt. Aber ich sehe, sogar als ich schwebe und selbst als ich das Gefühl des Erstickens habe, als ich mich umschaue – ich sehe, dass sich nichts geändert hat. Blauer Himmel versteckt sich hinter Wolken, Leute stehen vor mir – mir gegenüber, einer trägt einen verblassten grünen Mantel und stützte sich auf einen hölzernen Stab, ein sowjetischer Kriegsgefangener, er steht vor mir und starrt mich stumpf an. Der einzige Gedanke, der die ganze Zeit in meinem Kopf hämmert, war: Ich bin tot, und die Welt, wie ich sie sehe, hat sich nicht verändert! So also sieht die Welt nach dem Tod aus?

    Abb. 17
    Hier war die grenzenlose Neugier, die der Mensch von dem Moment an besitzt, als er sich zum ersten Mal seiner Sterblichkeit bewusst wird; eine Neugier, die über den Tod hinausreicht: »Wie ist es, tot zu sein? So also ist es, tot zu sein? Am Ende sieht man also die Welt so, wie sie ist, und die Welt liegt offen vor mir. Ich schwebe zwar, aber nichts hat sich geändert.« Dieses Rätsel, das mich seit meinem fünften oder sechsten Lebensjahr gefesselt hatte, ohne jeden Zusammenhang mit dem Tod oder der Metropole des Todes oder dem Krematorium, war plötzlich gelöst. Tod ist gar nicht Tod, die Welt hat sich für mich nicht verändert, ich sehe die Welt und nehme sie wahr. Das war die Erfahrung, die mich in jenen langen Minuten, oder Sekunden, überwältigte, bis einer der Leute, die dort standen, dem Kriegsgefangenen den Stock aus der Hand nahm – oder vielleicht war es eine Schaufel – und mir damit ein paar Mal gegen die Brust stieß. Ich fiel auf den Boden.
    Was danach geschah – das ist eine andere Geschichte. Die Verbrennungen an meinen Händen verwandelten sich in eitrige Wunden, und ich musste mich verstecken, um zu vermeiden, in die Gruppe der Arbeitsunfähigen selektiert zu werden.

4

Herbst 1944:
Auschwitz – Geistermetropole
    Nach dem Aufstand des »Sonderkommandos« und meiner persönlichen Erfahrung mit dem Stacheldraht kam die große Evakuierung von Auschwitz. Die meisten der verbliebenen Häftlinge durchliefen die Selektion. Das Ergebnis war, dass fast alle gingen. Diese Selektion war weniger zur Liquidierung gedacht als vielmehr dazu, jene auszuwählen, die in der Lage waren, Auschwitz zu verlassen und in Deutschland Zwangsarbeit zu verrichten. Zug nach Zug, Kolonne um Kolonne von alteingesessenen Häftlingen und allen Arten von Häftlingen, die noch am Leben waren, brachen in andere Lager nach Deutschland auf. Die Evakuierung von Auschwitz hatte begonnen. Es war klar: Jeden, der übrig geblieben war, erwartete sein sicheres Ende. Die, die gegangen waren, zogen in große Ungewissheit, aber es war ein Weg hinaus aus diesem ausweglosen Ort. Nahezu alle Freunde meines Vaters und auch wir beide taten alles, um zu denen zu gehören, die gehen würden. Ich hätte die Selektion nicht überstanden – wegen meiner verbrannten Hände und meines Alters –, aber wie schon beim letzten Mal, während der Evakuierung des Lagers der Juden aus Theresienstadt, stahl ich mich in die Männergruppe und ging mit ihnen den Weg zum Tor und zu den Zügen.
    Die erneute Rückkehr von den Lagertoren
    Am Tor wurde ich zurückgeschickt. Es war fast eine Wiederholung der letzten Episode, zur Zeit der Evakuierung und Liquidierung des Familienlagers, als ich mich der Jugendgruppe anschloss. Ich war einige Jahre jünger als die anderen, und es war offensichtlich, dass ich keinerlei Chance hatte, das Tor zu passieren. Das Tor wurde von einem furchteinflößenden SS-Mann namens Buntrock bewacht, den wir Kinder und die anderen Häftlinge Bulldogge nannten. Jeder musste unter seinen wachsamen Augen durch dieses Tor, einer nach dem anderen, und ich auch. Als ich bei ihm ankam, fragte er: »Wie alt bist du?« »Fünfzehn«, antwortete ich. Er sagte: »Warum lügst du?« Ich war gerade mal elfeinhalb. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste, was ich wusste, bevor ich dorthin kam. Ich kam zu diesem Ausgang, als es an der Zeit war für dieses große unabänderliche Gesetz – dem niemand zu entgehen vermag und das auch auf mich Anwendung findet –, ausgeführt zu werden, und ich würde mich, indem man mich zurückschickte, all jenen anschließen, die dazu verurteilt waren, Teil des unabänderlichen Gesetzes des Todes zu sein, des unabänderlichen Gesetzes, das in dieser Metropole des Todes regiert und schließlich zu diesem Zeitpunkt vollstreckt wird. Denn hiernach gibt es keinen Tod mehr.

    Abb. 18
    Dieser Buntrock,
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