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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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Memorial Book: Jewish victims of Nazi deportations from Bohemia and Moravia 1941–1945), Prag1995, Bd. 2, S. 1209.

3

Endgültige Liquidation
des »Familienlagers«
    Nach sechs Monaten, im Verlauf einer Nacht, wurden alle fünftausend – oder alle, die von den fünftausend, die mit uns im September 1943 ankamen, noch übrig waren – vernichtet. In jener Nacht im März 1944 starben sie fast alle in den Gaskammern, abgesehen von einigen wenigen, die zufällig im Krankenbau waren und am Leben gelassen wurden, um die anderen in die Irre zu führen – die Patienten, zu denen meine Mutter und ich gehörten – und die Ärzte. Diejenigen, die mit späteren Transporten ankamen, wussten, dass sie wie ihre Vorgänger noch etwa sechs Monate zu leben hatten. Warum? Niemand wusste es.
    Als ich aus dem Krankenbau zurückkehrte, spielte sich das gesamte Leben im Lager in der unausweichlichen Gewissheit ab – wie der Sand einer Sanduhr unerbittlich rieselt –, dass die Tage gezählt waren und im Krematorium enden würden.
    Die Liquidation begann im Juli, und dieses Mal auf andere Weise. Jeder im Lager durchlief die »normale« Selektion, das übliche Verfahren in Auschwitz. Die Arbeitsfähigen wurden in Arbeitslager ins Reich verschickt, unter denen sich auch meine Mutter befand, die anderen in die Gaskammern. Anfangs gehörte ich zu den anderen – zum zweiten Mal –, die durch das Gas sterben sollten. Das erste Mal war ich zufällig davongekommen, aber eine zweite Chance zeichnete sich nicht am Horizont ab, bis auch dieses Mal, völlig unerwartet, das Ende aufgeschoben wurde. Nachdem die Selektionen abgeschlossen waren, erging der Befehl, einige Dutzend Jugendliche für Lagerarbeiten auszuwählen, etwa um als sogenanntes »Rollwagenkommando« Karren zu ziehen, denn schließlich sind menschliche Arbeitskräfte billiger als Pferde, die ein kostbares Gut waren. Das war eine der Arbeiten, zu denen man uns Kinder heranzog. Zu diesem Zweck verbrachte man uns in ein anderes Lager. So entkamen wir dieser Etappe der Liquidation des Familienlagers.
    Der ewige Tod des Kindes – der ewige Tod und Auferstehung des Großen Todes
    Diese Dinge hängen mit verschiedenen Situationen zusammen, die in einer Art mythischen Traumlandschaft wiederkehren. Jene Nacht im März, in der all meine Kindheitsfreunde – und fast meine ganze Familie, wie ich am nächsten Morgen feststellte – ausgelöscht wurden, kommt in Bildern zurück, die ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, die ich aber ständig wieder-erfahre: Wie sie die Gaskammern betreten und ich mit ihnen, weil ich zu ihnen gehöre. Wie sie und ich den Korridor betreten und danach die Gaskammern und ich mit ihnen. Wie ich, im letzten Moment, auf Umwegen fliehe, einmal durch eine Öffnung, die entsteht, als sich eine kleine rostige Eisentür öffnet, ein anderes Mal durch eine Art unterirdischen Wasserlauf – und ich komme aus dem Krematorium heraus und grabe mich unterhalb des Stacheldrahtzaunes hindurch. Endlose Situationen dieser Art.
    Eines Tages halte ich den Jugendlichen im Block eine Rede, versuche sie zu überzeugen, dass der Ort, an den wir gebracht werden, obgleich er uns als Arbeitslager beschrieben wurde, nichts anderes als ein Verschleierungsmanöver ist und wir in Wahrheit alle verurteilt sind zu sterben. Als wir dort ankommen, entweiche ich irgendwie, ich gehe nicht mit ihnen, ich entkomme allein. Ich weiß – während wir uns dem Ort nähern –, dass ich entkommen werde, oder eigentlich nicht, dass ich entkommen werde, sondern dass mich im letzten Moment das Geschehen nicht mitreißen wird. Diese bestehende, völlig rationale Gewissheit – dass der einzige Weg hier raus das Gas ist, das Ersticken und das Feuer – ist so mächtig, dass es unmöglich ist, es nicht zu glauben. Und dennoch glaube ich.
    Das ist eine konkrete Situation, die sich in Auschwitz selbst einige Male wiederholte und auf paradigmatische Weise wiederkehrt, in Träumen, ob von Flucht oder von Rückkehr. Flucht mit dem Zug, das Bild eines verlassenen nächtlichen Bahnhofs, als plötzlich aus den Lautsprechern mein Name schallt und ich mich melde und zurück nach Auschwitz geschickt werde, ins Krematorium; und ich weiß, es gibt kein Entrinnen vor den Krematorien und der einzige Weg und das einzig sie beherrschende Gesetz ist die Erfüllung des Gebots, die Resignation, der Tod und die Auslöschung. Ich weiß aber auch, dass ich im letzten Moment irgendwie nicht in dieses unabänderliche Gesetz
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