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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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nicht vorkam? Wie war dieses »Wunder« zu deuten, was war der Zweck dieses Lagers? Das wusste seinerzeit niemand, auch nicht nach seiner Liquidation, einer Liquidation, die auf die schlimmste Art geschah, schlimmer wohl als die »übliche Prozedur« in Auschwitz, mit ihren Selektionen. All das habe ich in einem wissenschaftlichen Artikel beschrieben, dem einzigen, in dem ich mich mit dem Thema der Konzentrationslager beschäftigt habe. Er beruht selbstverständlich völlig auf Dokumenten, die ich zum Teil in deutschen Archiven gefunden habe. Darin beschreibe ich die Dinge in der dritten Person, wie jemand, der eine entfernte historische Realität schildert. 5
    Doch gibt es Dinge, die in diesen Artikel nicht eingegangen sind, aber mir als mächtige Erlebnisse blieben. An einige erinnere ich mich häufiger, an andere seltener.
    Der Kinder- und Jugendblock
    Am Anfang steht die Erinnerung an die ersten Tage, als in dem entsetzlichen Durcheinander der Häftlinge in den Baracken auf dem gestampften Lehm ein Mann erschien, den wir gut aus dem Ghetto Theresienstadt kannten; Freddy Hirsch – ein angesehener junger Mann, der bei den Jugendlichen Autorität besaß, ein madrich, 6 ein Athlet, an dessen Taten wir uns aus der gemeinsamen Zeit in Theresienstadt noch erinnerten. Er hätte hier zu einem Lagerkapo ernannt werden müssen, doch überraschend bat er darum, ihn von diesem Amt freizustellen; er wolle sich mit etwas anderem beschäftigen, und schnell wurde uns klar, womit: Er versammelte alle Kinder und Jugendlichen in einer großen Baracke, einem »Block«, wie man es dort nannte, und widmete sich zusammen mit einem von ihm ausgesuchten Team von madrichim ganz dieser Jugend und ihrer Erziehung. Diese Baracke wurde binnen kürzester Zeit zum Zentrum des kulturellen und geistigen Lebens an diesem Ort. Und ich meine das ohne jede Einschränkung: Es war ein Ort, an dem Theateraufführungen und Konzerte stattfanden, und dies, natürlich, hundertfünfzig oder zweihundert Meter von der Selektionsrampe und drei- bis vierhundert Meter von den Krematorien entfernt. Die Erlebnisse von dort, an die ich mich erinnere, bilden zweifelsohne das ethische Fundament meiner Einstellung zur Kultur, zum Leben, zu fast allem; es wurde bei mir im Alter von zehn bis elf Jahren gelegt, in jenen wenigen Monaten zwischen September 1943 bis zur Liquidierung des Lagers im Juli 1944.
    Woran ich mich in diesem Block erinnere? Zunächst, woran ich mich nicht erinnere: Erst vor kurzem traf ich einen der Jungen, die mit mir in diesem Block waren. Er lebt heute in Australien. Ihn trieb die Frage um, so erzählte er mir in unserem Gespräch, ob es, als wir dort lernten, Bänke gab oder ob wir auf dem festgestampften Lehmboden saßen. Er konnte sich nicht daran erinnern, was und wie wir gelernt hatten, doch ihn beschäftigte der visuelle Aspekt. Dieses Detail konnte ich unter keinen Umständen aus meiner Erinnerung heraufholen. Ich wusste nicht mehr, ob es dort Bänke oder einen festgestampften Lehmboden gegeben hat. Als ich versuchte, mir Bänke vorzustellen, standen mir die Bänke im Speisesaal des Kibbuz in Israelvor Augen, und ich begriff, dass sie nicht von dort waren. Ich erinnerte mich an den gestampften Lehmboden, doch dieses Bild stammte vom ersten Anblick der Baracken, die ich direkt nach unserer Ankunft sah.
    Absolut klar erinnere ich mich an unsere erste Geschichtsstunde. Dort hörte ich zum ersten Mal von den spannenden Manövern in der Schlacht bei den Thermopylen und die ganze Geschichte der Perserkriege. Ich weiß auch noch, dass mich diese Stunde so faszinierte, dass ich mir beinahe jedes Wort merkte, und als ein Inspektor erschien – es gab tatsächlich so ein System der Selbstkontrolle, das prüfen sollte, wie viel die Schüler mitbekamen –, feuerte ich, der Kleinste unter allen, die ganze Salve spannender Geschichten über den ersten und zweiten Perserkrieg ab, die große Seeschlacht von Salamis, die Schlacht bei den Thermopylen und den bewegenden letzten Satz des Marathonläufers. Dies war kein tiefes Erlebnis, ich hatte tiefere und stärkere, aber es war, wie mir scheint, das erste Erlebnis von dort. Mit einem Lächeln erwäge ich manchmal die Möglichkeit, dass mein Interesse für Geschichtsforschung – an der ich, als ich als junger Mann zur Universität kam, zunächst keinerlei Interesse und Reiz finden konnte –, dass dieses Interesse, das mich vielleicht für meinen späteren Beruf prägte, bei dieser ersten Begegnung geweckt
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