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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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wurde. Wer weiß?
    Sehr viel bewegender und für mich von bleibenderem Eindruck war die Tatsache, dass in dieser Baracke künstlerische Aufführungen stattfanden, an denen wir teilnahmen. Eine davon, die großartigste, war eine ganze Kinderoper, die wir dort aufführten. Ich erinnere mich, an vielen Proben teilgenommen zu haben. Die Aufführung selbst konnte ich nicht mitsingen, weil ich zu der Zeit mit Diphtherie im Krankenbau lag, einer Krankheit, die unter den herrschenden Umständen tödlich verlaufen konnte, die aber auf paradoxe Weise mein Leben retten sollte. Dies alles war so bewegend, weil wir so enorme Anstrengung darauf verwendeten, die Texte auf Deutsch vorzubereiten, die Texte und Lieder auswendig zu lernen und alles weitere vorzubereiten, darunter auch die Kulissen an die Wände zu malen.
    Doch noch stärker sind mir die satirischen Darbietungen in Erinnerung geblieben, an denen ich mitwirkte: Jede Gruppe sollte eine fiktive zukünftige Situation vorstellen, die in der Wirklichkeit von Auschwitz verankert war. An viele Aufführungen kann ich mich nicht im Einzelnen erinnern, aber ich erinnere mich an einen Sarkasmus, den die Kinder und die Jugendleiter sehr gut verstanden. Unsere Gruppe führte »Das himmlische Auschwitz – das irdische Auschwitz« auf: Als Neuankömmlinge im Himmel entdeckten wir zu unserer Verwunderung, dass es in der oberen Welt Selektionen und Krematorien gab. Oder in einer anderen Szene der Aufführung: dass zur Verwunderung des im himmlischen Auschwitz operierenden Chirurgen dieselben Läuse, die Überbringer des Auschwitzer Seuchentodes, in den Gedärmen des Patienten entdeckt wurden.

    Abb. 10
    Außerdem erinnere ich mich gut daran, dass bei unseren Aufführungen im Publikum auch SS -Leute saßen, unter ihnen Mengele und ein anderer Arzt mit Namen Lucas, gegen den ich später im Auschwitz-Prozess in Frankfurt ausgesagt habe. Diese kryptischen Anspielungen, diese Geheimsprache funktionierte so, dass wir, die Kinder und auch die Jugendleiter, beide Aspekte dieser Situation ausdrückten. Ob diese Zuschauer das mitbekamen oder nicht – für uns war es wichtig. Dieser Humor, dieser schwarze Humor, und unsere Witze, auch außerhalb der Aufführungen, über den einzigen Weg, wie man aus Auschwitz herauskommt – durch den Schornstein, den Schornstein der Krematorien! Witze dieser Art, und auch die besondere Sprache, die wir entwickelten, in der wir uns unterhielten, auch sie ist eine Schöpfung, die dort entstand, und ich erinnere mich an nichts ähnlich Kreatives und Abgründiges im Verlauf meines weiteren Lebens. Ich habe diese Sprache später nicht mehr verwendet, außer mit zwei mir sehr nahen Menschen hier in Jerusalem, lang, lang nach dem Krieg: mit einem der Jugendlichen, die damals dort mit mir zusammen waren, dem Maler Jehuda Bacon, und mit meinem besten Freund, dem in deutscher Sprache schreibenden Lyriker Gerschon Ben-David, 7 Friede ihm, der sich, obwohl er nicht selbst im Lager gewesen war, alle Feinheiten dieser Ironie aneignete und es uns so ermöglichte, in ihr einen »spielerischen« Dialog von ganz besonders schwarzem Humor zu führen.

    Abb. 11
    Der Große Tod und der Kleine Tod
    Dort, in diesem Lager, gab es noch andere Vergnügungen. Als Kinder wollten wir unbedingt wissen, ob der Stacheldraht des elektrischen Zauns wirklich unter Strom stand, eine Frage, die uns keine Ruhe ließ. Wir schlichen uns an ihn heran, tagsüber, nicht nachts, und wetteten, wer es wagen würde, den Draht zu berühren, und am Leben bliebe.
    Tagsüber stand der Zaun meist nicht unter Strom. Unsere Angst war groß, aber die Notwendigkeit, diese kleine Angst zu besiegen, war größer. Die große Angst vor den Krematorien und dem unabänderlichen Gesetz, das zu ihnen hinführte, konnte man nicht besiegen. Das Besiegen der Angst durch den Mut und die bewusste Selbstgefährdung der Kinder, um dieses untergeordnete System des Todes – einen Zaun, der nicht beziehungsweise nur in bestimmten Fällen dazu diente zu töten – zu prüfen, war für sich genommen schon eine große Sache.

    Abb. 12
    Dies waren die ungeplanten Vergnügungen, außerhalb des Kinderblocks. Weniger amüsant waren andere Anblicke, die ich nur selten zu sehen bekam oder mir nur sehr selten zu sehen erlaubte: die Haufen von Leichen, Skeletten gleich, die schwer zu beschreiben sind – nur Haut und Knochen. Skelette, nur noch von gelber Haut bedeckt. Nachts brachte man die Skelette durch die Hintertür aus den Blocks, und
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