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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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–, sahen wir als Erstes Ketten von flackerndem Licht, Lichter, die an einem elektrisch geladenen Netz aus Stacheldraht hingen, ausgespannt zwischen oben gekrümmten Betonpfeilern, alle in gleicher Form, und ihre Reihen, die Reihen, so schien es uns, waren kilometerlang. Um uns herum lauter Lager, ein Rechteck nach dem andern, von Licht erleuchtet und mit Reihen von Baracken. Während wir auf diesem Gleis zwischen diesen Lagern hindurchfuhren, verstand meine Mutter, die an sich optimistisch war, dass es hier – – – dass man hier nicht mehr rauskam. Sie begriff, dies war, was ich später in meiner privaten Mythologie immer wieder die »Metropole des Todes« nennen würde.
    Es war die Ironie des Schicksals, dass wir, meine Mutter und ich – ich war damals zehn Jahre alt –, uns freiwillig für den Transport von Theresienstadt nach Auschwitz gemeldet hatten, weil ihre Mutter, also meine Großmutter, und Mutters Schwester samt deren Sohn – im Grunde die ganze Familie, die wir zu diesem Zeitpunkt dort noch hatten – mit diesem Transport an eben jenen unbekannten Ort gebracht werden sollten. Wir hatten uns freiwillig gemeldet, um zusammenzubleiben, und ich hatte meinen Freunden im Kinderheim in Theresienstadt versprochen, dass ich ihnen schreiben würde, sollte dieser neue Ort besser sein. Vielleicht würde es sich ja auch für sie lohnen zu kommen. Und wir haben geschrieben. Postkarten. Ich selbst nicht, aber unter den Karten, die geschrieben wurden, waren auch solche, die die Zurückgebliebenen verschlüsselt warnen sollten, indem es zum Beispiel hieß: »Jeden Tag treffen wir Onkel Hlad [ hlad, tschech.: Verhungern]« oder »Onkel Mavet[ mavet, hebr.: Tod].«

    Abb. 8

    Abb. 9
    Ich kehre zur ersten Stunde unserer Ankunft zurück. Zum Anblick der Nacht, des Dunkels, der Lichter. Dieses Netz aus Pfeilern und Stacheldraht, so weit das Auge reicht, ist eines der Bilder, die sich mir eingeprägt haben und die wiederkehren; ich entwickle sie weiter und erschaffe sie in meiner Vorstellung neu, mal in Träumen, mal in bestimmten Situationen, in denen ich in diese Zeit eintauche. Dieser Anblick ist mir als etwas Bezauberndes geblieben, wenn ich es so nennen kann, jene frische Nacht mit den lebendigen Lichtern, in der die Kolonne, todmüde, verdurstend, an die Tore jener Metropole gelangte.
    Das »Familienlager« – das Rätsel seiner Ausnahme von der Ordnung der »Endlösung«
    Binnen kurzer Zeit befanden wir uns in einem der Lager. Alle zusammen – Frauen, Kinder und Alte. Erst einige Tage später erfuhren wir, ein Wunder war geschehen, ein Wunder, dessen Bedeutung keiner verstand. An dieser Rampe, jenem Bahnsteig, an dem wir ausgestiegen waren, wurde jede Gruppe von nach Auschwitz Deportierten mit derselben, hinlänglich bekannten Prozedur empfangen: der Selektion, nach der die meisten Menschen in die Gaskammern geschickt wurden; eine Minderheit, die Arbeitsfähigen, wurde nach der Desinfizierung und dem Umtausch ihrer Kleider in Häftlingskluft in eines der Arbeitslager innerhalb von Auschwitz geschickt. Bei unserem Transport kamen jedoch alle ins selbe Lager, man hat unser Haar nicht rasiert, hat uns unsere Kleider gelassen, und die Häftlinge, die schon länger hier lebten, erklärten uns, dies sei eine Seltsamkeit, die keiner von ihnen verstehe.
    Unter den »alteingesessenen« Häftlingen, die unser Lager kurz nach unserer Ankunft im September 1943 besuchten, gab es einen, der seit 1939 in verschiedenen Konzentrationslagern und seit 1942 in Auschwitz war: mein Vater. Er hatte uns gefunden, hatte uns unter den aus Theresienstadt Kommenden erkannt – er wusste, dass wir aus Theresienstadt kommen würden – und hatte uns, meine Mutter und mich, gesucht. Er erklärte meiner Mutter und im Grunde allen Häftlingen die Bedeutung des Schauspiels, das sich an der Rampe abspielte, wenn Tag für Tag Züge voll Häftlingen ankommen, dort selektiert werden und sich dann in langen Prozessionen in Richtung der Backsteinhäuser mit den großen Schornsteinen bewegen, aus denen Tag und Nacht Flammen und Rauch aufsteigen. Er erklärte uns, was Selektionen sind, was Krematorien, was Gaskammern – was Auschwitz-Birkenau ist, das Zentrum eines Geschehens, dessen Wurzeln und Entwicklung ich Jahre später, ohne mich dafür je entschieden zu haben, zu erforschen hatte.
    Was war dieses Lager, das offiziell BIIb oder im Munde der Häftlinge »Familienlager« hieß, weil in ihm ganze Familien untergebracht waren, was in anderen Lagern
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