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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme
Autoren: Christoph Hein
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kaufen konnte, das er für einen Neuanfang dringend benötigte.
    Im Sommer half der Tischler bei der Ernte. Griesel hatte ihm, da er mit Pferden umgehen konnte, ein Gespann übergeben, und so fuhr er Korn und Stroh von den Feldern zur Mühle, zu den staatlichen Erfassungsstellen und in die Scheuern, packte bei den Säcken mit an und bemühte sich, nicht weniger zu leisten als jeder andere Erntehelfer. Auf Mitleid oder Spott reagierte er nicht, die Bemerkungen über seinen fehlenden Arm schien er nicht zu hören, und schroff reagierte er auf lobende Bemerkungen über seine Geschicklichkeit, alles mit einer Hand zu bewerkstelligen.
    Als die Ernte von den Feldern war, richtete er sich die alte Tabakscheune von Griesel als Werkstatt her, da er in der Strohscheune nicht weiter arbeiten konnte, denn inzwischen besaß er elektrische Geräte und von Dieselmotoren betriebene Maschinen, und der Bauer befürchtete, dass Funken das darüber gestapelte Stroh entzünden könnten. Die Scheune, in der bis zum Kriegsende die Tabakblätter getrocknet wurden, stand leer, der Bauer hatte den Tabakanbau aufgeben müssen, da ihm das staatliche Abgabesoll vorschrieb, was er anzupflanzen hatte, und er nicht mehr das kleinste Feldstück für die gewinnträchtigeren Tabakpflanzen nutzen konnte.
    Genau achtzehn Monate nach seiner Umsiedlung in unsere Stadt beantragte Tischler Haber einen Gewerbeschein im Rathaus. Er legte alle geretteten Papiere vor und unterzeichnete zwei eidesstattliche Erklärungen, da er nicht alle erforderlichen amtlichen Dokumente der niederschlesischen Behörden präsentieren konnte. In den folgenden Sommern arbeitete er zur Erntezeit auf den Feldern von Griesel, denn die Tischlerei ernährte ihn und seine Familie mangelhaft. Die Einheimischen gingen lieber zu einem derdrei einheimischen Tischler, die seit Jahren und zwei von ihnen seit Generationen in der Stadt ansässig waren, als zu der armseligen Werkstatt von Haber, sei es, weil dieser ein Umsiedler war, der sich ungebeten in ihrer Stadt niedergelassen hatte, oder weil man sich nicht von einem Einarmigen, der in einer Notunterkunft und mit lächerlich wenig Werkzeug seinen Beruf auszuüben suchte, einen stabilen Tisch oder einen Schrank bauen lassen wollte.
    Drei Jahre lang wohnte die Familie des Tischlers in den beiden Dachkammern auf dem Bauernhof, da die Wohnungsverwaltung der Stadt ihm keine eigene Wohnung zuweisen konnte und Haber sich den Neubau eines Hauses nicht zutraute, denn er machte sich keine Illusionen darüber, was er selbst tun und welche Hilfe er von seinen Nachbarn erwarten konnte. Und bis zu dem Brand arbeitete er in der notdürftig hergerichteten Werkstatt in der alten Tabakscheune.
    Bernhard Haber wurde nicht in die vierte Klasse versetzt, in die er eigentlich gehörte, sondern blieb trotz seines Alters in meiner Klasse, denn er hatte Mühe, bei uns mitzuhalten und nicht sitzen zu bleiben und dann zu den noch Jüngeren gesteckt zu werden. Er war nicht unbegabt, und was er einmal verstanden hatte, vergaß er nie, aber er war schwer von Begriff, wie wir sagten, saß minutenlang dumpf brütend über einer Aufgabe und schwitzte. Man kann ihm beim Denken zusehen, sagte Fräulein Nitzschke einmal. Von ihr war es gewiss nicht böse gemeint, doch ihre Bemerkung wurde von der Klasse amüsiert aufgenommen und zu einer ihn kennzeichnenden, oft gebrauchten Redensart, wenn auch keiner von uns es wagte, den Satz laut zu wiederholen.
    Nach dem Unterricht musste er seinem Vater in der Tischlerei helfen, so dass er häufig seine schulischen Aufgaben nicht oder sehr mangelhaft erledigte. Völlig hilflos war er, wenn es galt, etwas auswendig zu lernen, ein Lied oder ein Gedicht. Wurde er aufgerufen, stand er wie versteinertneben seiner Bank, den Blick starr in eine Zimmerecke gerichtet, und suchte verzweifelt nach Worten. Wenn wir ihm eine Zeile zuflüsterten, murmelte er sie uns stumpf und verständnislos nach, konnte kein weiteres Wort hinzufügen und wiederholte mehrfach diese eine ihm zugeraunte Zeile, als wollte er mit ihrer Hilfe die weiteren Worte und Strophen aus seinem Gedächtnis fischen, bis sich endlich der Lehrer erbarmte, ihn aufforderte, sich hinzusetzen, und ihm im Klassenbuch eine mangelhafte Leistung bescheinigte.
    Völlig trostlos wurde es für ihn, als der fremdsprachliche Unterricht begann. Er vermochte nicht, sich die Vokabeln einzuprägen, zumal ihm zum Lernen daheim die Zeit fehlte und die ungewohnte, andersartige sprachliche Struktur und
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