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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme
Autoren: Christoph Hein
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Protestierenden, der keinesfalls aufgeben wollte, auf die Bank zurück. Sein unermüdlicher Eifer und der Entschluss, keinerlei Rücksichten auf sich selbst zu nehmen, brachten ihm trotz einer sehr unbeholfenen Körperbeherrschung stets eine Eins im Fach Sport und Körperertüchtigung ein, und diese Eins nahm sich seltsam verloren auf seinem Zeugnis aus, das ansonsten sehr viel höhere Zahlen aufzuweisen hatte.
    In meiner Klasse hatte Bernhard keinen Freund. Auf dem Schulhof unterhielt er sich häufig mit einem älteren Jungen aus einer anderen Klasse, der ebenfalls Umsiedler war und nur seine Mutter und zwei Schwestern hatte, der Vater war gefallen. Dieser Junge und seine Familie waren am Stadtranduntergebracht, in einer der Schnittersiedlungen, die früher einmal zum großen Gutshof gehörten, einer riesigen Anlage, die nach dem Krieg als Staatsgut betrieben und später der Genossenschaft übergeben wurde. Dort wohnten vor dem Krieg Erntehelfer, Saisonkräfte aus Pommern und während des Krieges die russischen und polnischen Fremdarbeiter. Die drei Schnitterkasernen neben dem Gutshof, langgestreckte einstöckige Häuser, bei denen die Eingangstüren dicht nebeneinander lagen und von jeweils zwei winzigen Fenstern unterbrochen wurden, hießen in der Stadt immer noch die Polensiedlung, und wir fanden es daher eigentlich richtig, dass die Vertriebenen dort untergebracht wurden, denn sie kamen schließlich aus Polen und sprachen ein Deutsch, das polnisch klang. Der Junge aus der Polensiedlung war sein Freund, wenigstens sah ich Bernhard nie mit einem anderen Jungen länger zusammenstehen.
    In der Klasse jedenfalls gab es niemanden, der mit ihm in den Pausen zusammenstand. Gelegentlich wurden die besseren Schüler von einem Lehrer aufgefordert, den leistungsschwächeren zu helfen, und für Bernhard übernahm ein Mädchen die Patenschaft und verpflichtete sich, mit ihm die Hausaufgaben zu machen. Da Bernhard das Mädchen nie zu sich nach Hause einlud, er schien darauf zu achten, dass keiner der Mitschüler seine Wohnung betrat, und er die vereinbarten Termine vergaß oder absichtlich versäumte, kam diese Hilfe bald ins Stocken und hörte schließlich ganz auf. Gelegentlich ging das Mädchen in den kleinen Pausen, in denen wir nicht auf den Schulhof gehen durften, zu ihm, sah seine Hefte durch, machte ihn auf Fehler aufmerksam oder nannte ihm ein fehlendes Ergebnis, das er dann rasch vor Beginn der Unterrichtsstunde in sein Heft schrieb. Auch dann bedankte er sich lediglich mit einem Kopfnicken, als sei es ihm eigentlich gleichgültig. Wir, seine Klassenkameraden, interessierten ihn nicht, genauso wenig wie die Lehrer oder der Schulstoff. Seine Teilnahmslosigkeit führte dazu,dass unser Interesse an ihm rasch erlahmte, da es kaum Berührungspunkte zwischen uns gab und wir ihm aus dem Weg gingen, zumal er sich rabiat wehrte, wenn er sich angegriffen, bedrängt oder belästigt fühlte.
    Sein einziger und wirklicher Freund war sein Hund, ein junger Terriermischling, den er von Bauer Griesel bekommen hatte als Lohn für eine Woche Feldarbeit und dem er den merkwürdigen Namen Tinz gegeben hatte. Er brachte den Hund sogar zum Unterricht mit. Eines Morgens erschien er mit dem Hund auf dem Schulhof. Als es zur Stunde klingelte, band er den Terrier an den niedrigen Lattenzaun, der den Schulhof zur Straße hin begrenzte, und sagte zu ihm, er solle sich hinsetzen und auf ihn warten. Der Hund setzte sich tatsächlich und sah ihn aufmerksam an.
    »Sitzen bleiben und nicht bellen«, sagte Bernhard zu ihm. Dann ging er ins Schulgebäude, wobei er sich mehrmals nach dem Tier umwandte, das gehorsam auf dem angewiesenen Platz sitzen blieb und keinen Laut von sich gab.
    Bereits in der ersten Schulstunde erschien der Hausmeister in unserer Klasse und fragte Bernhard, nachdem er sich kurz mit der Lehrerin besprochen hatte, ob ihm der Hund auf dem Schulhof gehöre. Als Bernhard schweigend nickte, sagte er, es sei nach der Schulordnung nicht erlaubt, Tiere in die Schule mitzubringen, es sei grober Unfug und Tierquälerei, und er wolle das Vieh nicht noch einmal auf seinem Schulhof sehen.
    Am nächsten Morgen brachte Bernhard den Hund wieder mit in die Schule und ebenso am darauf folgenden Tag. Jedes Mal band er ihn an den Zaun und schärfte ihm ein, ruhig zu sitzen und auf ihn zu warten, was das Tier auch tat. In diesen drei Tagen war das Schulleben von Bernhards Terrier bestimmt. In den Hofpausen standen vor allem die Mädchen sämtlicher
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