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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme
Autoren: Christoph Hein
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Klassenstufen in der Nähe des Hundes, redeten auf ihn ein, kauerten vor ihm, küssten ihn und versuchten, mit ihm zu spielen. Und obwohl Bernhard esallen verboten hatte, fütterten sie ihn mit den mitgebrachten Schulbroten, ließen sich von ihm die Hände lecken und wetteiferten untereinander um die Zuneigung des jungen Hundes. Auch während der Unterrichtsstunden fesselte das Tier die Aufmerksamkeit der Schüler, die von ihren Bänken aus oder beim Gang zur Wandtafel einen Blick aus dem Fenster zu werfen suchten. Tinz stellte eine so erhebliche Störung des gewohnten Schulbetriebs dar, dass Bernhard am zweiten Hundetag zum Direktor bestellt wurde. Da diese Unterredung nicht das gewünschte Ergebnis zeigte, sondern Tinz auch am dritten Tag von Bernhard am Zaun angebunden wurde, erschien der Direktor in unserer Klasse und drohte Bernhard die empfindlichsten Strafen an, falls er noch ein einziges Mal seinen Hund in die Schule bringe. Er sagte, er werde ihn dann von der Schule verweisen, obgleich es in ganz Guldenberg nur eine einzige gebe, so dass er dann jeden Tag mit dem Bus in die Nachbargemeinde oder in die Kreisstadt fahren müsse. Dann entschied er, dass Bernhard den Hund sofort heimzubringen habe und den dadurch versäumten Unterricht nach Schulschluss mit einer Strafaufgabe nacharbeiten müsse.
    Tinz blieb seitdem daheim auf dem Bauernhof von Griesel. Noch Wochen und Monate später erkundigten sich die Mitschülerinnen bei seinem Besitzer nach ihm, und Bernhard nahm zufrieden zur Kenntnis, dass, von den Lehrern abgesehen, es alle bedauerten, seinen Hund nicht mehr auf dem Schulhof zu sehen.
    Als das sechste Schuljahr begann, wurden wir von der Klassenlehrerin am ersten Tag wieder umgesetzt. Sie machte das jedes Jahr einmal, immer in der allerersten Stunde des neuen Schuljahres, und gelegentlich passierte es auch mitten im Schuljahr, dass Fräulein Nitzschke sich vor uns aufbaute, ihr kleines Notizheft aufklappte und uns mitteilte, wer von uns seine Sachen zusammenzuklauben und sich umzusetzen habe. Es gab immer Proteste unsererseits und beiden Mädchen manchmal Tränen, denn sie empörten sich besonders darüber, auseinander gerissen zu werden, wie sie sich ausdrückten. Nach einer Woche hatte jede sich an die neue Sitznachbarin gewöhnt, war nun mit ihr eng befreundet und schwatzte mit ihr genauso wie zuvor mit der Vorgängerin. Fräulein Nitzschke, so viel hatten wir begriffen, waren diese Umsetzungen ungeheuer wichtig, und vermutlich grübelte sie tagelang darüber nach, bevor sie sich entschied. Es wurden Schüler auseinander gesetzt, die gemeinsam den Unterricht störten, und es wurden bessere und schlechtere Schüler gemischt, aber sie setzte auch ohne erkennbare Gründe Schüler auf eine Bank zusammen, jedenfalls waren ihre Motive für uns nicht immer nachvollziehbar oder zu erraten. Wenn wir sie empört danach fragten, teilte sie uns lediglich mit, es erfolge aus pädagogischen Erwägungen, die sie uns nicht erläutern müsse.
    Das Schlimmste, was einem Jungen passieren konnte, war, wenn er neben ein Mädchen gesetzt wurde. Dann johlten alle anderen Jungen vor Vergnügen und Schadenfreude, und der Jubel war umso größer, wenn man schon wusste, dass man nicht selbst neben ein Mädchen zu sitzen kam. Diejenigen, denen die Eröffnung noch bevorstand, lärmten aus der beklemmenden Angst heraus, ihnen könne ein ähnliches Schicksal bevorstehen. Es passierte selten, dass wir gemischt auf eine Bank gesetzt wurden. Vielleicht nahm Fräulein Nitzschke auf unsere kindliche Verlegenheit Rücksicht, und nur wenn gar kein anderer Platz frei oder ein Schüler besonders vorlaut und nicht zu zügeln war, wurde eine solche Zusammensetzung vorgenommen, die uns allen als eine besondere Strafmaßnahme erschien. Die Schulmappen unter den Arm geklemmt standen wir in diesen Minuten der Sitzverteilung an die Zimmerwände gelehnt und an den Fenstern und warteten gespannt darauf, wohin wir gesetzt würden.
    Dieses Jahr wurde mir die Bank in der zweiten Reihe ander Tür zugewiesen. Der schöne Fensterplatz, den ich im vergangenen Jahr hatte, war verloren, und während ich die zwei Schritte zu meinem neuen Sitzplatz ging, lauschte ich aufmerksam, welcher Schüler oder gar welche Schülerin nach mir aufgerufen werden würde, denn das würde für mindestens ein Jahr mein Sitznachbar werden.
    »Bernhard Haber«, sagte Fräulein Nitzschke.
    Ich schmiss meinen Ranzen wütend auf die Tischplatte. Es knallte so laut, dass ich mich
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