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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme
Autoren: Christoph Hein
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die ungeläufigen Zeichen ihn verwirrten und lähmten, so dass er selbst bei den einfachsten Aufgaben verzweifelt und stumm den Lehrer ansah und offensichtlich aufhörte nachzudenken und auf eine übernatürliche Eingebung hoffte.
    In jedem Schuljahr war er der führende Kandidat für das Sitzenbleiben, doch regelmäßig und Jahr für Jahr verbesserten sich in den letzten entscheidenden Wochen seine Zensuren wundersamer Weise ein wenig, so dass er mit Ach und Krach die gesetzte Hürde übersprang und ins nächste Schuljahr versetzt wurde. Wir wussten alle, dass die Lehrer dabei nachhalfen, denn nicht versetzt zu werden, war nicht nur für uns Schüler eine einschüchternde Drohung, auch den Lehrern war an einem Weiterkommen der Schüler gelegen, denn wenn zu viele von ihnen eine Klasse wiederholen mussten, galt dies als ein Versagen der Lehrkraft und als Zeugnis ihrer mangelhaften pädagogischen Fähigkeiten. Die Lehrer achteten daher darauf, nur den Eltern jener Schüler den gefürchteten Brief zu schicken, bei denen es unumgänglich war, dass sie die Klasse wiederholten, und ansonsten drückten sie ein Auge zu, um nicht vor dem Schuldirektor lange Erklärungen abgeben zu müssen. DaBernhard ein sehr ruhiger Schüler war, der den Unterricht nicht störte und in den Pausen nicht durch Disziplinlosigkeiten auffiel, entschieden sich jedes Jahr die Klassenlehrerin und die Fachlehrer dafür, ihn weiter mitzuschleppen und stattdessen einen anderen Schüler nicht zu versetzen, der durchaus nicht schlechtere Leistungen vorwies, aber ein Unruhestifter war, in den Stunden dazwischenredete und die Mitschüler vom Lernen abhielt. Auch wird für die Lehrer die Überlegung entscheidend gewesen sein, dass man mit Bernhard keine zukünftige Leuchte der Wissenschaft ausbilde, die fundierte Kenntnisse für das spätere Studium benötige, sondern dass er wohl sein Leben als robuste Hilfskraft im Straßenbau oder auf einem Acker zubringen und kaum mehr von dem Lehrstoff in seinem Leben brauchen werde, als ein normaler Dreiklässler bereits wisse. So wurde Bernhard, der sich kaum mit seinen Mitschülern abgab und außer durch seine beeindruckende Begriffsstutzigkeit den Unterricht in keiner Weise störte, Jahr für Jahr in die nächsthöhere Klasse versetzt, wodurch sich allerdings der unverstandene Wissensstoff bei ihm anhäufte und er in jedem neuen Schuljahr mit einem gewaltigeren Pensum von Unbegreiflichkeiten umzugehen hatte, da selbst all jenes, was er hätte verstehen und erfassen können, auf Voraussetzungen gründete, die sich bei ihm lediglich als tiefe, schwarze Löcher darstellten. Er saß schweigend auf seinem Platz, allezeit bereit, sich seiner Haut zu wehren, und allein seine Augen verrieten sein verzweifeltes Bemühen, etwas zu verstehen, und hatten den stumpfen Glanz der Vergeblichkeit. Sein Weiterkommen verdankte er seinem aussichtslosen, doch redlichen Bemühen, das für seine Lehrer wie Mitschüler fast schmerzhaft sichtbar wurde, wie dem Umstand, dass es in jedem Jahr einen ebenso schlechten Schüler wie ihn gab, den die Lehrer gern loswurden, so dass sie ihm den Versetzungsbescheid verweigerten, um ihn einem ihrer Kollegen zu überlassen.
    Bernhard, obwohl er ein ganzes Jahr älter als alle anderen war, gehörte zu den Kleineren in meiner Klasse. Im Sportunterricht, bei dem wir uns nach der Größe aufzustellen hatten, stand er bei den Knirpsen ganz links, wurden jedoch für die Wettkämpfe die Mannschaften zusammengestellt, war er stets einer der Ersten, die man für die eigene benannte. Wenn er den Ball in Besitz bekommen hatte, wagte sich keiner ihm in den Weg zu stellen, denn er lief alle um und schnurstracks mit dem Ball bis zum Torkreis, um ihn dann mit einem mächtigen Wurf ins Tor zu donnern. Beim Fußball war er ebenso begehrt, er ließ sich durch Fouls nicht vom Ball trennen, und die es versuchten, ihm ein Bein zu stellen, saßen danach spielunfähig am Rand des Spielfeldes und rieben sich jammernd ihr Schienbein. Wo Ausdauer und Kraft gefragt waren, nahm es keiner mit ihm auf, doch wenn im Sportunterricht nicht allein Stärke und Mut, sondern zudem eine gewisse Geschicklichkeit gefordert waren, versagte er. Wenn die Barrenholme sich durchbogen und zu brechen drohten, weil Bernhard die fehlende Eleganz und Körperbeherrschung durch eine wilde Kraftanstrengung zu kompensieren suchte, fürchtete selbst der Sportlehrer, dass der Junge sich in seinem berserkerhaften Einsatz verletzen könnte, und schickte den
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