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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme
Autoren: Christoph Hein
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sie verschwunden. Ihre Mutter wird sicher mit mir schimpfen.«
    »Hallo, Nadja. Du hast einen schönen Namen. Einen wunderschönen Namen.«
    Das Kind sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Das ist heute ein großer Tag für Ihre Stadt.«
    »Nun ja, Fasching. Die Kleinen jedenfalls sind seit dem Morgen aufgeregt. Darum ging mir Nadja verloren. Aber ich denke, jetzt haben wir genug gesehen und werden heimgehen. Einverstanden? Gehen wir zu Mama?«
    Die beiden Kinder nickten stumm.
    »Ein schönes Städtchen, in dem Sie leben.«
    »Haben Sie es sich angesehen?«
    »Ja. Den ganzen Vormittag. Ich war an der Mulde und auf der Burg.«
    »Ja, es ist eine schöne Stadt. Gewiss nicht so aufregend wie Ihr Berlin. Ich habe an dem Nummernschild gesehen,woher Sie kommen. Hier ist alles geruhsamer. Und freundlicher. Man hat Nachbarn, mit denen man sich unterhalten kann, die einem helfen. Das ist in einer Großstadt sicher alles völlig anders. Ich glaube, ich könnte nicht in einer Stadt wie Berlin leben.«
    »Das kann ich verstehen. Ich bin auch in einer Kleinstadt aufgewachsen.«
    »Ja. Dann gute Fahrt. Und nochmals vielen Dank.«
    Der alte Mann lief mit seinen Enkelkindern quer über den Platz und verschwand in Richtung des Angers. Der andere Mann war in seinen Wagen gestiegen, startete den Motor und schaltete ihn wieder aus. Er stieg aus dem Auto, verschloss es und ging zur Apotheke hinüber. Einige Sekunden starrte er in das große Schaufenster, dann stieg er die drei Stufen hoch und öffnete die Ladentür. Niemand war im Verkaufsraum zu sehen, das Läuten der Türglocke rief eine Frau aus den hinteren Räumen herbei. Sie fragte nach seinen Wünschen, und er bat um eine Schachtel Salmiakpastillen. Sie legte ihm drei verschiedene Schachteln auf den Verkaufstisch, der Mann deutete auf eine und gab der Frau einen Geldschein. Während sie zur Kasse ging und das Wechselgeld heraussuchte, sah sich der Mann aufmerksam in der alten Apotheke um.
    »Haben Sie noch einen Wunsch?«, erkundigte sich die Apothekerin. Der Mann dankte, nahm die Pastillen und das Geld und steckte alles in seinen Mantel. Er grüßte so freundlich, als er die Apotheke verließ, dass die Frau ihm verwundert nachsah.
    Der Mann stieg in sein Auto und fuhr los. Er fuhr zum Paradeplatz und umkreiste ihn, dann lenkte er den Wagen zur Muldebrücke, hielt mitten auf der Brücke und stieg aus, um in das Wasser zu sehen. Ein paar Minuten später startete er erneut und fuhr durch die Stadt, wobei er sich nach den Schildern mit der Kennzeichnung der Autobahn richtete. An der Sandstraße wurde er von einem Polizisten aufgehalten,der diese Straße für den Faschingsumzug absperrte. Da der Mann bereits die beiden Mädchen auf den Pferden erblickte, die auf dem Marktplatz den Umzug beschlossen hatten, schaltete er den Motor nicht aus. Nachdem die letzten Kinder die Straße überquert hatten, winkte der Polizist und bedeutete ihm weiterzufahren. Er fuhr am Kurpark vorbei und an der Siedlung. Als er den Stadtausgang erreichte, beschleunigte er das Fahrzeug so heftig, als wolle er eine verlorene Zeit wiedergewinnen.
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