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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme
Autoren: Christoph Hein
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auf einen Hocker in die offene Garagentür, schaute in den Garten oder in den Himmel und trank sein Bier. Er sagte nichts, er sagte kein einziges Wort. Irgendwann rief seine Frau nach ihm, er antwortete ihr nicht. Nachdem er den letzten Schluck ausgetrunken hatte, hielt er die Flasche kurz nach unten, um die letzten Tropfen auszugießen, dann drehte er sich zu mir um und lächelte mich an.
    »Ich weiß es nicht, Sigurd. Ich will es wissen und ich will es nicht wissen. Ich will es wissen, weil ich jahrelang hinter dieser Wahrheit hinterher war. Und ich will es nicht wissen, denn ich fürchte, es hilft mir nichts. Ich fürchte, dass ich dann wieder am Anfang stehe, dass alles wieder von vorn beginnt. Verstehst du das?«
    »Ich denke schon.«
    »Alle waren gegen uns, wir haben nie dazugehört. Und jetzt habe ich das Gefühl, es geschafft zu haben. Soll ich das aufgeben? Und wenn ich die Kerle vor Gericht bringe, werde ich wieder die ganze Stadt gegen mich haben. Dann kann ich aufgeben und wegziehen. Und wofür? Meinen Vater kann ich nicht mehr lebendig machen. Sigurd, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich es hören will.«
    Ich nickte.
    »Der Mörder ist tot. Und die anderen Beteiligten würden allenfalls wegen Mithilfe oder Anstiftung oder auch nur Leichtsinn verurteilt werden können. Außerdem ist alles fünfzehn Jahre her, da bekommen sie nicht einmal eine Bewährungsstrafe, sondern wegen Verjährung wird die Ermordung meines Vaters nicht mehr verfolgt. Wie kann einMord verjähren, Sigurd? Ich verstehe durchaus, dass es sinnvoll ist, eine Straftat irgendwann einmal verjähren zu lassen. Wenn man etwas gestohlen hat oder jemanden betrogen, dann vergisst man das irgendwann. Und der Bestohlene, so sehr er sich auch ärgerte, er verschmerzt es einmal. Nach einigen Jahren ist es vergessen und verjährt. Aber ein Mord! Der Tote wird nie wieder lebendig, und seine Verwandten und Freunde werden seinen Tod lebenslang nicht vergessen. Und auch der Mörder wird es wohl nie vergessen. Weil ein Mord nicht verjähren kann. Für den Mörder meines Vaters jedenfalls verjährte seine Tat nicht, er musste darüber reden, nach fünfzehn Jahren. Mord kann nicht verjähren, das ist eine Dummheit der Richter und Gesetzgeber.«
    Wiederum nickte ich nur schweigend.
    »Aber was soll ich tun? Stell dir vor, ich klage drei Geschäftsleute von Guldenberg an und mache einen Riesenwirbel. Ich habe Recht und bekomme es vielleicht, vielleicht wohlgemerkt, und dann wird mir mitgeteilt, das Ganze sei verjährt. Was mache ich dann? Dann kann ich hier einpacken, dann bin ich hier erledigt. Dann kann ich wieder von vorne anfangen. Irgendwo. Denn dann werden mich nicht nur diese drei Geschäftsleute nochmals vertreiben.«
    Ich wusste, dass er Recht hatte und hütete mich, ihm zu widersprechen.
    »Im Mittelalter«, sagte Bernhard, »das habe ich jedenfalls gehört, sind Dome und Kirchen und große Gebäude immer mit Blut gebaut worden. Das Blut von einem Unschuldigen, am besten von einem Kind, musste im Mörtel stecken, wenn das Gebäude halten sollte. Vielleicht ist das Aberglaube, doch vielleicht ist das noch immer so. Vielleicht brauchte es erst das Blut meines Vaters, meines unschuldigen Vaters, dass ich hier heimisch werde, dass man mich akzeptiert.«
    Ich lachte laut auf, klopfte ihm auf die Schulter undschüttelte den Kopf. Was er sagte, fand ich verschroben und gruselig, aber irgendetwas an seinem Gedanken faszinierte mich, jedenfalls ging er mir nicht aus dem Kopf, und ich habe noch Jahre später an seine Worte denken müssen. Vielleicht war an dem albernen Aberglauben etwas dran.
    »Was wirst du tun?«, fragte ich, »willst du irgendetwas in der alten Sache unternehmen?«
    Bevor er etwas sagen konnte, entschloss ich mich, ihm zu helfen.
    »Ich denke, es ist für dich besser, Bernhard, wenn du es vergessen kannst. Überdies würden dir die Namen nichts helfen. Außer Beuchler ist keiner mehr da. Zwei von ihnen sind gestorben und der Vierte ist in einem Altersheim irgendwo im Süden.«
    Er sah mich prüfend an, und ich hielt unbewegt seinem Blick stand. Einem Freund zuliebe kann man mal lügen, und Bernhard war inzwischen so etwas wie ein Freund für mich. Friederike rief nochmals seinen Namen.
    »Danke, Sigurd«, sagte er knapp, und zusammen gingen wir in sein Haus.
    Friederike, die in der Küche beschäftigt war, fragte, ob wir ein Bier trinken wollen, und brachte es uns ins Wohnzimmer.
    »Was habt ihr so lange in der Garage gemacht?«,
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