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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme
Autoren: Christoph Hein
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zu dem Stuhl gegangen, den ihm die Lehrerin hingeschoben hatte, er drehte sich zur Klasse und, ohne den Arm zu heben, ballte er eine Faust und hielt sie einen Moment vor seinem Bauch, während er zu uns sah und mit den Augen nach dem Jungen suchte, der die Bemerkung gemacht hatte.
    »Das war sehr, sehr hässlich«, sagte Fräulein Nitzschke, »und ich will dieses dumme Wort nie wieder hören. Nie wieder! Habt ihr verstanden? Und Bernhard ist kein Pole, er ist ein Deutscher genauso wie ihr.«
    Nach der Hofpause war ein zusätzlicher Stuhl ins Klassenzimmergestellt worden, der neue Mitschüler musste sich an eine Bank in der ersten Reihe setzen, die beiden Mädchen an diesem Tisch rückten zusammen, um ihm Platz zu machen.
    Als Herr Voigt, der Mathematiklehrer, in die Klasse kam, standen alle auf und warteten, bis er nach vorn gegangen war, die Schüler begrüßt und sich gesetzt hatte, bevor sie die beweglichen Sitzbänke laut knallend zurückschnappen ließen und wieder Platz nahmen. Herr Voigt ließ seinen Blick langsam durch die Klasse gleiten, er wirkte dann stets wie ein Greifvogel auf der Suche nach einer Beute. Als er den neuen Schüler bemerkte, betrachtete er ihn amüsiert von oben bis unten.
    »Ein Neuer«, stellte er höhnisch fest. »Und wie heißt du?«
    Ohne die Antwort abzuwarten, schlug er das Klassenbuch auf und las die dort eingetragenen Bemerkungen über Bernhard Haber laut vor.
    »Du bist schon zehn Jahre alt, sososo. Na, wenn man dich in die dritte Klasse steckt, wird es mit deinen Rechenkünsten nicht weit her sein, oder?«
    Die ganze Klasse amüsierte sich. Der neue Schüler hatte seine Hände auf das Pult gelegt, sah vor sich hin und erwiderte nichts.
    »Steh auf, wenn ich mit dir rede. Und sieh mich an. Bist du mit deinen Eltern hierher gekommen?«
    »Ja.«
    »Na, wenigstens kein Waisenknabe. Mit denen haben wir ja nichts als Ärger. Hat deine Familie eine Wohnung? Ein Zimmer?«
    »Ja.«
    »Schön. Und hat dein Vater Arbeit?«
    »Nein. Noch nicht.«
    »Da lebt ihr also auf Kosten der Stadt. Was hat dein Vater für einen Beruf?«
    »Er ist Tischler.«
    »Gut. Tischler, das ist gut. Wenn er zupacken kann und nicht gerade zwei linke Hände hat, wird er schnell etwas finden. Tischler werden gebraucht.«
    Er machte eine kleine Pause und fuhr dann mit bösem Lächeln fort: »Oder arbeitet er nicht gerne, dein Vater? Das gibts ja auch.«
    Der Neue stand mit hängendem Kopf an der Bank, mit beiden Händen hielt er die schräge Schreibfläche umklammert. Er war hochrot im Gesicht, als er erwiderte: »Nein. Mein Vater hat nicht zwei linke Hände. Er hat eine linke Hand.«
    »Und woher kommt ihr? Wo bist du geboren, Junge?«
    »In Breslau.«
    »Was sagst du?«
    Herr Voigt starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, dann hielt er eine Hand an sein rechtes Ohr und sagte nochmals: »Was hast du gesagt?«
    »Wir kommen aus Breslau.«
    Herr Voigt schüttelte den Kopf und sah empört und fassungslos in die Klasse. Dann streckte er die Hand aus und zeigte auf ein Mädchen: »Kathrin, wie heißt die Stadt, aus der der Neue kommt?«
    »Wrocław«, sagte das Mädchen, wobei sie sich kurz erhob, so dass der Klappsitz zurückschnellte.
    Herr Voigt nickte zufrieden. Dann wandte er sich wieder an den neuen Schüler: »Oder meinst du, in Italien leben heute die Römer? Nein, die Italiener. Merk dir das. Und Istanbul, das nennt ihr in Hinterpommern wohl noch immer Konstantinopel oder Byzanz, wie? Und du kommst aus Wrocław. Hast du das verstanden?«
    Bernhard Haber sah Herrn Voigt unverwandt in die Augen. Er war völlig reglos.
    »Also, noch einmal. Wo kommst du her?«
    »Aus Wrocław.«
    »Richtig. Setz dich endlich hin. Wir wollen mit dem Unterricht beginnen.«
    Bernhard Haber blieb trotzig neben seinem Stuhl stehen. Bevor er sich hinsetzte, sagte er rasch: »Aber geboren wurde ich in Breslau.«
    Herr Voigt hatte sich umgedreht, um etwas an die Wandtafel zu schreiben. Die ausgestreckte Hand mit dem Kreidestück sank langsam herunter. Wie in Zeitlupe drehte er seinen Oberkörper herum und sah den Neuen an. Er schien völlig überrascht zu sein, und für einen Moment glaubten wir alle, er würde anfangen zu brüllen. Er verzog verächtlich den Mund und lächelte Bernhard bedrohlich an.
    »Ach was«, sagte er schließlich, und es klang fast anerkennend, »so einer bist du. Aber ich werde dir die Flötentöne noch beibringen, mein lieber Herr Gesangsverein.«
    Er wandte sich wieder zur Tafel und schrieb aus dem
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