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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme
Autoren: Christoph Hein
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der Eltern mit ihr sprach und Frau Nitzschke zu ihr sagte, verbesserte sie ihn mit einem leichten, nachdrücklichen Lächeln, als wäre es für sie von besonderer Bedeutung, nicht verheiratet zu sein. Sie war eine sehr hagere Frau, vorn und hinten ein Brett, wie die älteren Schüler auf dem Schulhof sagten, und hatte stets stark gepuderte Wangen, was sehr ungewöhnlich war und worüber auch die Erwachsenen in der Stadt sprachen. Man vermutete, sie habe eine unreine Haut oder eine Krankheit, Genaues wusste keiner. Wenn sie durch die Bankreihen ging und sich zu den Schülern herunterbeugte, konnten wir den süßlichen Duft des Puders riechen.
    Fräulein Nitzschke ging mit dem Neuen nach vorn zum Lehrertisch, setzte sich und wartete, bis Ruhe eingetreten war und alle zu ihr schauten oder vielmehr zu dem Jungen, der neben ihr stand und finster vor sich hin starrte.
    »Wir haben einen neuen Mitschüler bekommen«, sagte Fräulein Nitzschke endlich, »er wird sich uns selbst vorstellen.«
    Sie sah den Jungen aufmunternd an. Der blickte unbewegt in die Klasse und musterte uns eindringlich.
    »Sag uns bitte deinen Namen.«
    Der Neue warf einen kurzen Blick zu der Lehrerin, dann murmelte er etwas, ohne jemanden anzusehen.
    Die Klasse wurde jetzt unruhig. Er hatte seinen Namenso beiläufig und leise gesagt, dass ihn kaum einer verstand. Einer von uns schrie: »Lauter!«, und andere lachten. Was wir sofort begriffen hatten, war, dass er einen dieser rauhen, ostdeutschen Dialekte sprach. Alle hatten sofort mitbekommen, dass wieder ein aus Pommern oder Schlesien Vertriebener in unsere Schule gekommen war.
    Unmittelbar nach dem Krieg war die Stadt mit ihnen überfüllt. Sie waren in Wohnungen eingewiesen worden, deren Besitzer nur unter dem Druck der städtischen Verordnung und der Polizei ein oder zwei Zimmer ausgeräumt hatten, um sie den Fremden widerwillig zu überlassen. Alle hofften, dass diese aus ihrer Heimat Vertriebenen bald weiterziehen würden oder vom Wohnungsamt eine eigene Wohnung zugewiesen bekämen. Wenn auch die Stadt vom Krieg und von den Bombern weniger heimgesucht worden war als die Kreisstadt und drei von den Dörfern in der Nähe, so gab es noch immer Kriegsschäden zu reparieren, und weder die Stadt noch die Leute hatten das Geld, neue Häuser zu bauen. Da es überdies an Baumaterial fehlte, wurden selbst die notwendigsten Reparaturen sehr schleppend ausgeführt.
    Jetzt, fünf Jahre nach dem Krieg, wohnten noch immer viele Umsiedler bei uns und schienen in Guldenberg bleiben zu wollen, zumal die neue Grenze im Osten wohl endgültig war und damit die deutschen Provinzen hinter der Oder polnisch bleiben würden und diese Leute nie wieder in ihre Heimat zurückkehren könnten. Auch in unserer Schule gab es genügend Kinder der Vertriebenen. Die meisten von ihnen sprachen inzwischen unseren Dialekt, und nur gelegentlich konnte man an einem ungewöhnlichen und befremdlichen Wort ihre Herkunft erraten oder weil sie die Rachenlaute heiserer als wir aussprachen. Sie waren allesamt ärmlicher gekleidet als die Kinder der Einheimischen, ihre Strümpfe und Joppen waren geflickt, runde Lederstücke waren nicht nur auf den Ellbogen angebracht, und vor allem ihr Schuhwerk war alt und rissig.
    »Ja, Bernhard Haber«, sagte Fräulein Nitzschke ungerührt von dem Lärm in der Klasse. Sie sprach den Namen deutlich und betont aus und sagte dann zu dem Neuen: »In der Pause kommst du zu mir, Bernhard, damit ich dich in das Klassenbuch eintragen kann. So, und nun geh und setz dich.«
    Bernhard Haber hob den Kopf und ließ seinen Blick über die Bänke gleiten. Auch andere Schüler drehten sich um und vergewisserten sich dessen, was sie ohnehin wussten: alle Klappstühle waren besetzt, es gab keinen einzigen leeren Platz. Als die Lehrerin es bemerkte, stand sie auf und schob ihren Stuhl an die schmale Seite des Lehrertisches.
    »Setz dich auf meinen Stuhl, Bernhard. Das werden wir in der Pause regeln. Der Hausmeister wird dir einen Tisch und einen Stuhl geben.«
    Sie wandte sich an die Klasse: »Bernhard ist ein Jahr älter als ihr. Er kommt aus Polen und konnte in den letzten Jahren nur unregelmäßig eine Schule besuchen. So hat er einiges versäumt, und ich denke, es ist besser, er kommt in das dritte Schuljahr, jedenfalls vorläufig. Wir werden sehen, was er weiß, und ich denke, ihr werdet ihn alle nach besten Kräften unterstützen.«
    »Ein Polacke«, sagte ein Junge aus einer der hinteren Reihen halblaut.
    Der Neue war
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