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Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
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Schenkeln wegzustreichen ver-
suchte, während seine Geliebte unsicher von oben zu ihm hinunterblickte, ihn ansah und sich Anleitung und sexuelle
Stimulierung erhoffte, einen sicheren Ort, wo sie beide sie
selbst sein konnten.
     
    Die Kinder sind inzwischen aus dem Haus, doch Julia
und Owen leben mit einer anderen Gegenwart in ihrem
Haus, die ihres nahenden Todes. Und davor, wenn sie
Pech haben, Alzheimer mit dem idiotenhaften Leben-
im-Tod. Beide sind sie vergesslich, Julia vergisst, was sie
sich an Erledigungen vorgenommen hat, er vergisst Na-
men, insbesondere die von Freunden in Haskells Crossing
und Haven-by-the-Sea. Namen, die früh ins Gehirn ein-
gepflanzt wurden, scheinen zu überdauern: ein welliges,
brüchiges Foto von der zweiten Klasse in Willow weckt
in ihm lückenlos, Reihe für Reihe, die Namen, während
der Golf-Gefährte von gestern, den er auf der Straße trifft,
eine weiße Stelle in seiner Erinnerung ist, obwohl Owen
ein perfektes Bild von seinem Swing vor Augen hat – ge-
duckt wie ein Geier, ein spektakulärer Kurvball. Der frü-
here Präsident Reagan hängt schwer über dem noch neuen
Jahrtausend: der Schauspieler mit der wabernden Stimme,
der gut aussehende Schlangenöl-Verkäufer, der die Armen
überredete, mit den Reichen zu stimmen, als ob sie selbst reich wären, ist nur noch ein Dunstschleier reiner Existenz,
frei von allen Erinnerungen an sein abenteuerliches Leben
und sogar an den Namen seiner treuen Frau, während sein
eigener Name dank seiner dankbaren Partei dem Flugha-
fen der Hauptstadt verliehen wurde, und einem riesigen
Gebäude in der Stadt, dessen Zweck angemessen vage ist.
Er geistert durch die nationale Kleinstadt; er macht uns
mahnend darauf aufmerksam, was alles passieren kann,
selbst einem Menschen, der gesund lebt, durchs Gelände         reitet und eine Menge schläft. In Pennsylvania sprach man
davon, dass alte Leute «zurückgehen» – das heißt in die
Kindheit zurückkehren. Owen und Julia haben diese Rich-
tung bereits eingeschlagen, wenn sie sich in Babysprache
unterhalten oder wenn sie einander berühren, als wollten
sie sich im Dunkeln orientieren, oder wenn sie sich zanken
wie Tukane im tropischen Dschungel, die sich gerade ge-
paart haben und danach in vollendeter vergessender Ein-
tracht davonfliegen.
    Owens alte Frage – warum die anonyme, paradigmati-
sche Frau bereit war, für die obszöne Darstellung an der
Rückwand des Spielplatz-Schuppens zu posieren – ist
immer noch unvollkommen beantwortet. Vielleicht ge-
hört die Frage der unwissenschaftlichen Ordnung an und
verdient keine Antwort, ebenso wie andere Fragen: War-
um existiert etwas? oder: Was ist Schwerkraft? Julia betrachtet
die Dinge mit irritierender Härte: Frauen sind die Sklaven
der Welt und müssen am Ende immer tun, was die Män-
ner fordern. Alissa hatte darauf aufmerksam gemacht, dass
die Frage Warum ficken Männer? nie gestellt wird. Die Frage
Warum tun Frauen es? kam Owen vielleicht deshalb in den
Sinn, weil er aus kindlicher Sicht die Entfernung zwischen
Frauen und Männern überschätzte. Er hatte keine Schwes-
tern; die Hitzigkeit seiner Mutter ängstigte ihn; auf dem
asphaltierten Pausenhof um die Grundschule von Willow
herum waren die Kinder durch einen breiten Gehweg in
der Mitte nach Geschlechtern getrennt. Jahrzehnte später
las Owen von einem Experiment mit weißen Mäusen, die
durch einen elektrisch geladenen Zaun nach Geschlech-
tern getrennt gehalten wurden: Die männlichen Tiere zo-
gen sich zurück, sobald sie sich den ersten harten Schlag
geholt hatten, während die weiblichen Tiere immer wieder gegen den Zaun anrannten, bis alle durch Stromschlag um-
gekommen waren.
    Die Natur der Frauen musste, wie er schon früh spür-
te, sehr breit angelegt sein, dass sie inmitten der Gefah-
ren der Welt und angesichts so vieler weiser gesellschaft-
licher Hindernisse Sex suchten. Die Kraft, die ihre Beine
spreizt, setzt Schamgefühl, Klugheit und Vernunft außer
Kraft. Frauen ticken, so seine vorläufige Schlussfolgerung,
weil sie, wie Männer, in einem biologischen Universum ge-
fangen sind, in dem die Arten, die sich nicht fortpflanzen,
verschwinden; die Wesenszüge, die von den Lebenden be-
wahrt werden – Frische, Schnelligkeit, Schläue, Tarnung –,
sind durchtränkt von diesem Verschwinden, diesem vielfa-
chen Sterben. Sex ist ein programmiertes Delirium, das den
Tod mit der dem Tod eigenen Substanz zurückdrängt, ist
der schwarze Raum zwischen den Sternen,
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