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Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
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sexuel-
les Versagen bei Julia. Seine Frau ist fünf Jahre jünger als er
und hat noch sexuelle Bedürfnisse; kaum eine Nacht ver-
geht, in der sie sein Einschlafen nicht mit einer Umarmung
oder einer forschenden Liebkosung unterbricht. Doch er,
der schon immer großes Vertrauen in die gesundheitsför-
dernde Wirkung des Schlafs hatte, klammert sich unritter-
lich an das sich nähernde Vergessen. Dass das Vergessen        ihn bald für immer umfangen könnte, schreckt ihn nicht.
Sein Herz schlägt noch, seine Prostata ist noch unversehrt,
nur seine Aufnahmefähigkeit für Julias Signale ist vermin-
dert. Dennoch empfindet er ihre enttäuschte Aufmerksam-
keit als wohltuend und tröstlich, und jeden Abend, wenn
er im Bett liegt und das Buch in den Händen schwerer wird
und immer weniger Sinn ergibt, hofft er, Besseres zu leis-
ten. Manchmal gelingt es ihm, dann sind beide von Dank-
barkeit erfüllt. Wie reizend sie ist, nackt im Dunkeln! Wie
wenig verdienen Männer doch die Schönheit und das Er-
barmen der Frauen!
    Erst kürzlich hatte er einen Traum, in dem er in einem
Klassenzimmer war und von der Lehrerin beauftragt wur-
de, Barbara Emerich einen Bleistift oder ein Schulbuch zu
bringen. Das Mädchen saß auf einem dieser Stühle aus gel-
ber Eiche mit einer verbreiterten Armlehne, auf der man
schreiben konnte. Als er ihr gehorsam den Bleistift oder
das Buch überbrachte, reagierte sie, indem sie noch mehr
in sich zusammenkroch und regungslos dasaß, sodass er
näher herangehen musste und aus dem schattigen Bereich
zwischen ihrem Schoß und ihrem gesenkten Gesicht spür-
te, dass sie bereit war, sich von ihm küssen zu lassen. Sie
erwartete es, zeigte die Erwartung aber nur, indem sie ihre
störrische Regungslosigkeit aufrechterhielt; ihr Mund blieb
fest verschlossen über ihrem sonnigen Lächeln, mit dem
einzelnen grauen Zahn. Barbara Emerich, das weiß er zu-
fällig, ist inzwischen krankhaft fett und kommt humpelnd,
mit einem Gehstock, zu Klassentreffen, und ihr hübscher
grauer Zahn ist schon seit langem durch eine nicht über-
zeugende elfenbeinweiße Brücke ersetzt worden; doch in
seinem Traum war sie immer noch geschmeidig, in ihrem
schlichten, mit blassen Blumen bedruckten Baumwoll-            kleid, das vorn geknöpft wurde, ein Kleid, wie es die Mäd-
chen in den dreißiger Jahren in der Grundschule trugen. Sie
trug ein Mädchenkleid, war aber eine reife Frau mit langen
weißen Beinen und einem weichen Bauch und konnte wie
eine Erwachsene still sitzen und abwarten. Die Fläche zwi-
schen ihren Brüsten und ihrem Schoß lag im Schatten an-
gespannter Erwartung; dorthin, in diesen Tümpel, wollte
er sehnsüchtig sein Gesicht legen, dort wollte er von war-
men Lippen begrüßt werden. Er erwacht und weiß – seine
Erektion beweist es –, dass er sexuell noch lebendig ist,
auch wenn Sex mit Julia im Wettstreit mit seinem senilen
Schlafbedürfnis liegt.
    Der Traum von Barbara Emerich hat ihm wieder die
Aura, das Klima von Frauen nahe gebracht, die Wolke, die
ihre Gegenwart umgibt, wenn man neben einer von ihnen
auf der Straße geht, Hüfte an Hüfte, das lange Haar und
der Rock Symbole des grundlegenden Unterschieds, der
zwar von Kleidern und Feigenblättern verborgen wird,
aber dennoch an einem Reichtum äußerer Zeichen sicht-
bar wird, so an der feineren Beschaffenheit der Haut und
der helleren, schnelleren Stimme. Am MIT, als sie noch
Studenten und unverheiratet waren, beschlossen er und
Phyllis gelegentlich, wenn sie des Lernens im gleichen
Moment überdrüssig waren, abends ins Kino zu gehen,
am Central Square oder in der Washington Street in Bos-
ton, wohin sie mit dem «T»-Zug fuhren, und auch darin
war Sex, in dieser spontanen gemeinsamen Flucht in den
Eskapismus, einem Versuch, die Verständigung, die ihre
Genitalien schüchtern suchten, auf die Kleinstadt mit den
allseits zugänglichen Vergnügungsstätten und dem Stra-
ßenleben auszudehnen: Damals hatte er Phyllis geliebt,
die Atmosphäre ihres Fließens neben sich auf dem Geh-            weg, eilend, damit sie nicht zu spät kamen, und ihr ein-
mütiges Schweigen, wenn sie die Hand in die gemeinsa-
me Popcorn-Tüte tauchte – obwohl Popcorn damals noch
keine so große Rolle spielte und die Kinos auf solche
Konzessionseinkünfte nicht in dem Maße angewiesen wa-
ren – und ihr aufmerksames Gesicht von dem elektrischen
Flackern lecken ließ, als wären es lauter Kurzschlüsse, von
Filmen wie Die Meuterei auf der
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