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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: U Krechel
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Menschheitsgeschichte an eine Art von Ordnung, von Systematik, nicht mehr zu denken. Gerade sie, eine geborene Berlinerin, eine Preußin, eine Protestantin, verlange nach einer nüchternen Ordnung, und sie zu entbehren, sei eine besondere Strafe gewesen, die sie glaube, nicht verdient zu haben. Kornitzer mußte lächeln bei diesem leisen Ausbruch seiner Frau. Ungefähr 150 Nationalsozialisten seien verhaftet worden, fuhr sie fort, auch die Ortsgruppenleiter von drei Städten. Der NSDAP-Kreisleiter hatte es vorgezogen, mit einigen Mitgliedern seines Stabes die Stadt zu verlassen. Er sei aber einige Tage später von einem Polen erschossen wurden, so habe man es berichtet, so erzählte es Claire ihrem Mann.
    Der Gastwirt der „Idylle“, der sich damit groß getan hatte, daß er die Franzosen empfangen hatte, wurde später der Lüge bezichtigt und verließ die Stadt. An seinen Namen erinnerte sich Claire Kornitzer nicht mehr, und das machte auch nichts. Nun hieß es: Er war dem ersten französischen Panzer begegnet, und der Offizier hatte ihn gebeten, ihm den Weg in die Stadt zu zeigen, nichts anderes. Und die Aufdeckung seiner beschämend unspektakulären Heldentat war so ernüchternd, daß man den Mann gründlich vergessen hätte, wäre er nicht noch im Amtsblatt des Kreises erwähnt worden. Aber Claire hatte diese Ausgabe des Kreisblattes weggeworfen, andere behielt sie, sie wußte selbst nicht, warum. Schwamm über den Mann, Schwamm über die „Idylle“, sie wußte nicht, ob das Gasthaus mit dem falsch klingenden Namen noch existierte. Und es interessierte sie auch nicht, ja, nicht im geringsten, sagte sie ihrem Mann, der eine geduldige Aufmerksamkeit für alles Heimatkundliche entwickelte.
    Zwangsarbeiter, Zwangsarbeiter, klingelte es abends beim Einschlafen in seinem Kopf. Ich habe meine Frau zur Anerkennung des Begriffs Zwangsarbeiter gezwungen, wo sie von dem polnischen Knecht, wie vermutlich alle Deutschen, sprechen wollte. Aber er, Kornitzer, war auch deutsch! Er war ausgebürgert worden, also mußte er sich schlaftrunken mit sich selbst auf einen so banalen Begriff wie „alle Deutschen im Lande“ beschränken. Oder sollte er sich dazu versteigen, in seinem Kopf von „allen Deutschen, die vom herrschenden Nationalsozialismus infiziert waren“, zu denken? Das schlösse auch seine Frau ein, die er ausnehmen wollte, die er ausnehmen mußte. Die Frage irritierte ihn, er sah sich als Bezwinger mit guten Gründen, aber das machte nicht froh, so nahm er schlaftrunken den Arm seiner Frau, der ihm am nächsten lag und knetete ihn, obwohl er ihn eigentlich nur streicheln wollte, aber die innere Anspannung, Claire Unrecht getan zu haben, ließ ihn wohl kräftiger zupacken, und Claire stieß einen Laut aus, den sie im Wachzustand wohl nicht über die Lippen gebracht hätte, einen tiefen, schnaubenden Seufzer wie ein Pferd, und dann merkte er auch an dem Arm, den er weiter in seiner Hand behielt: Claire schlief schon längst. Und Kornitzer, noch lange schlaflos, sagte sich: Ich habe an ihr unlauter gehandelt. Das klang gut, auch befreiend, aber es war wiederum kein juristischer Begriff. Er dachte noch ein bißchen nach, ob er einen solchen, der wirklich paßte, nachschieben könnte, es war wie eine innere Verfassungsbeschwerde gegen sich selbst. Er fand keinen passenden Begriff, nun ja: „Nötigung zur Verständigung“ wäre noch am passendsten gewesen. Aber die Nötigung konnte auch billigend als eine Einladung zu einer Rechtsgemeinschaft aufgefaßt werden, die er ohnehin schon mit seiner Frau bildete. Daß er sich seiner Frau gegenüber nicht strafbar gemacht hatte, wußte er selbst, auch so schlaftrunken wie er war. Aber es gab einen Schatten, der nicht moralisch oder ethisch zu bewerten war, sondern auf einer Ebene, die er doch gerne auf dem Feld seiner Fachwissenschaft verorten wollte.
    Als er sich sicher eine Stunde im Bett gewälzt hatte, nahm er ein zweites Mal vertrauensvoll den ihm am nächsten liegenden Arm seiner Frau und behielt ihn umfaßt, als wäre er eine Schlummerrolle, etwas, an dem er sich ohne Bedingungen anklammern konnte, das tat er, und seine Frau machte am Morgen den Eindruck, als hätte sie von all diesem Denk- und Gefühlsaufwand nicht das Geringste mitbekommen, was erleichternd war, aber auch ein bißchen unheimlich.
    Wie hatte Claire Kornitzer ihren Mann wiedergefunden? Das war eine lange Geschichte. Im Amtsblatt hatte sie einen Aufruf gefunden, der sie elektrisierte.
    Deutsche
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