Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: U Krechel
Vom Netzwerk:
nichts anderes als Bauer sein mit einer rotwangigen Frau, die im Stall ein Kopftuch trug, und einer Schar Kinder, rosig und gesund, mit einer Haut wie Milch und Blut, und Honig floß, tropfte über die dick geschmierten Butterbrote, in der Küche hing ein Kreuz im Winkel über dem Eßtisch, an dem sich alle versammelten, und die Kinder tauchten die Bommeln, mit denen ihre Strickjacken am Hals verschlossen waren, in den Honig, und die Bäuerin übersah es gnädig, sie hatte genug zu tun im Stall, im Haus, die Kinder gediehen, aßen die Äpfel, die Äpfel rotbackig und blank und die Kinder auch. (Vielleicht täuschte er sich. Vielleicht idealisierte er das, was er nicht kannte. Die Enge, die Strenge, das Verbot, aus der Gemeinschaft auszuscheren, wo immer sie sich denkend, handelnd, Gefühlen unterworfen befand, das Verbot, über die Stränge zu schlagen, eigene Wege zu gehen, kannte er nicht.) Eine Kuh kalbte im Stall, die dramatischen Verwerfungen auf der Bauchdecke des Tieres mußten beobachtet werden, und die Kinder saßen noch beim Frühstück.
    Ja, der Weiler Bettnang gefiel Richard Kornitzer. Oder gefiel er ihm so gut, weil er Claire hier wiedergefunden hatte, weil in diesem Bauernhaus, das mit einer Schulter zur Landstraße wies, eine Art von Gewißheit herrschte, die er so lang vermißt hatte? Unten die Pfempfles, die Hofbesitzer, Mann und Frau in seinem und Claires Alter, mit einer Gelassenheit den Zeitläufen gegenüber – wo und wie der Obstbauer den Krieg erlebt hatte, wagte Kornitzer nicht wirklich zu fragen, immerhin war er Gast. Im ersten Stock wohnten Vertriebene aus dem Egerland, Schwestern oder Schwägerinnen mit drei Kindern und einem Mann, der mit Eifer einen Schuhwichshandel aufgezogen hatte. Schuhwichse war nicht lebenswichtig, eher schon ein Luxusprodukt, aber ein erschwingliches. So türmten sich im Treppenhaus Kartons mit Schuhwichsdosen, woher der Mann den Bestand hatte, blieb sein Geheimnis. Der Mann der zweiten Vertriebenen war verschollen, nichts wußte sie von ihm und seinem möglichen Tod.
    Pfempfles melkten und fütterten die Kühe, sie spritzten die Obstwiesen siebenmal im Jahr, wie es der Kreisobstbauminspektor empfahl, so hatte Kornitzer es verstanden: Die Winterspritzung bis Mitte März, die erste Vorblütenspritzung kurz nach dem Austrieb, die zweite Vorblütenspritzung kurz vor dem Aufbrechen der Blüten, die erste Nachblütenspritzung sofort nach dem Abfall der Blütenblätter, die zweite Nachblütenspritzung etwa zwei Wochen nach der ersten Nachblütenspritzung, die dritte Nachblütenspritzung etwa zwei bis drei Wochen nach der zweiten Nachblütenspritzung, bei Regenwetter früher, bei trockenem Wetter später und die Spätschorfspritzung Anfang August bis Anfang September. Der größte Feind der Früchte war der Apfelblütenstecher, aber auch Blattläuse, Schorf, Frostnachtspinner und Obstmaden konnten für die Ernte gefährlich werden. Die Winterspritzung bekämpfte die Eier der verschiedenen Schädlinge. Pfempfles führten sorgfältig Buch über die vorbeugenden Spritzungen, nichts durfte dem Zufall überlassen bleiben. Wenn sich erst Krankheiten auf den Blättern oder Früchten zeigten, waren sie meist nicht mehr zu bekämpfen. An den kranken Stellen verursachten die Spritzmittel aus Kupferkalk und Schwefelkalk sogar häufig Verbrennungen. Es war auch wichtig, frühmorgens oder spätabends zu spritzen und niemals in die offenen Blüten, denn die Bienen, die die Blüten bestäubten, mußten geschützt werden. Und möglichst bei windstillem Wetter.
    So penibel die Pfempfles mit den Apfelbäumen verfuhren, so viele Freiheiten ließen sie ihren Söhnen, wenn nur die Arbeit auf dem Hof gemacht wurde. Sie hatten zwei Söhne, der Älteste war im Alter von Georg, dem Kornitzersohn, es war ein groß gewachsener Junge mit flachsblondem Haar, der eine so ruhige Selbstgewißheit ausstrahlte, als könnte er im Nu den Hof übernehmen: die Kühe, die Apfelbäume, die dann alt gewordenen Eltern – er hatte ja auch mit der Mutter und dem polnischen Zwangsarbeiter alleine wirtschaften müssen –, und ein kleinerer Junge, der gerne Faxen machte, dem Claire schon von weitem zuwinkte, wenn sie mit dem Postbus abends nach Bettnang kam. Ein Junge, der sich gern bei ihr in ihrem Zimmer herumtrieb und bettelte, sie möge doch den Plattenspieler anstellen. Sie tat es ihm zu Gefallen, aber sie hatte auch Gefallen an dem Vergnügen des Jungen, daß er etwas wollte, was nicht selbstverständlich war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher