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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: U Krechel
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1. 1946) habe ich folgende Angaben zu machen:
    Zuname: Kornitzer
    Vorname: Claire Marie geb. Pahl
    Ich selbst bin voll-arisch, jedoch (im Sinne der Nürnberger Gesetze) mit einem Volljuden seit 1930 verheiratet. Meine Ehe ist nicht geschieden.“
    Das Wort „nicht“ hat sie zweimal unterstrichen: nicht , und noch einmal nicht geschieden . So ragt es prominent aus dem Schriftstück hinaus. Und so füllt sie sorgsam den Fragebogen weiter aus:
    „Ehemann: Dr. Richard Karl Kornitzer (ehemaliges richterliches Mitglied der Patent- und Urheberrechtskammer des Landgerichts I in Berlin)
    am 1. 4. 1933 ohne Gehalt und Pension wegen seiner Rassezugehörigkeit fristlos entlassen.
    Im Februar 1939 nach Kuba ausgewandert und seit dem Februar 1942 fehlt mir jede Nachricht von meinem Mann.
    Kinder:      Georg geb. 22. 1. 1932
                        Selma geb. 30. 3. 1935
    Beide Kinder sind von mir Anfang Januar 1939 nach England zur Erziehung gebracht worden. Auch über den Verbleib meiner Kinder habe ich nur widersprüchliche Nachrichten.“
    Der ganze Komplex der Vermögensentschädigung, ihre Gesundheit, all das interessiert sie jetzt nicht so sehr, sie geht darauf nur kursorisch ein, vielleicht hofft sie auf die Hilfe ihres Juristen-Mannes. Sie hat jetzt andere Interessen, existenzielle Interessen, und die teilt sie dem Landratsamt mit.
    „Zur Frage der Wiedergutmachung: ich spreche die ergebene Bitte aus, mir zunächst in folgenden beiden Punkten so weit als möglich behilflich zu sein:
    1. den jetzigen Aufenthaltsort meines Mannes zu ermitteln und seine evtl. Rückkehr zu unterstützen.
    2. meine eigenen Bemühungen, eine Einreiseerlaubnis für einen kurzen Besuch meiner Kinder in England zu erhalten, freundlichst zu unterstützen. Die kurze Reise nach England soll neben dem Besuch der Kinder, die ich sieben Jahre entbehren mußte, auch den Zweck haben, die Wiedervereinigung der Familie zu fördern.“
    Sie schreibt ohne Grußformel, sehr selbstbewußt, sie hat genug gelitten und entbehrt. Sie schreibt in großen, schwingenden Buchstaben ihren Namen: Claire Kornitzer, das E am Ende des Vornamens zittert, verknäult sich ein wenig. Egal, was Graphologen dazu sagen mögen (gibt es noch welche?), vielleicht eine Erregung, ein gutes Ende vorauszusehen, vielleicht auch eine optische Entsprechung des Nierengrießes, der sie seit einiger Zeit quält, als schiede sie auch etwas Spitzes, ganz unpassend Zugespitztes aus, eine Hoffnung, eine Selbstsicherheit, die Energie, hier aus dem Winkel des Bodensees die Zügel in die Hand zu nehmen, um die Familienkutsche, die havariert ist aus bekannten Gründen, wieder in die richtige Spur zu bringen. Claire Kornitzer legt sich mächtig ins Zeug. Und seit ihrer Meldung wurden auch die Hilfsorganisationen tätig, Listen wurden verglichen, das Räderwerk einer Sozialmaschinerie auf Hochtouren, es lief heiß, unzählige Namen von Verschollenen in allen Blättern und Aufrufen, Namenslisten wurden über die Kontinente gekabelt, die Listen der Suchenden und die der Gesuchten übereinanderkopiert, bis sie an einer Stelle deckungsgleich wurden.
    Kornitzer hatte seine Frau wiedergefunden, und er hatte dazu ein Panorama geschenkt bekommen, wie er es noch nie gesehen hatte. Die grünen Matten mit den malmenden Milchkühen im Vordergrund, dann ein Wäldchen, die breit angelegten Obstgehölze, Obstplantagen mußte man schon sagen, wenn man in den Tropen gewesen war, Äpfel und Birnen in einer solchen Fülle, wie er sie noch nie gesehen hatte. Und dann darüber der Prospekt der Berge, Gipfel für Gipfel in breiter Front. Kalt und weiß, kalkig waren die ersten, bläulicher die dahinter und die hintersten spielten ins Violett, ritzten den blauen Himmel blutig. Wie ein Schüler lernte er ihre Namen. Er war in eine Landschaft gebettet, wie er sie sich nicht hatte träumen lassen können, viel frische Luft, so daß sie ihn fast betäubte. Der Sonnenaufgangshimmel, wenn er aus dem Fenster sah, hatte einen feinen Haarflaum. Der Sonnenuntergangshimmel mit einer langen Kette wächserner Wolken wirkte wie modelliert, frisiert, Wolkenmodelle in einer großen volkstümlichen Ausstellung, einer Glaspalastwirksamkeit. Prachtvolle Tage, denen Regenvorhänge folgten, die Bergkette verschwand im Mausgrauen. Am nächsten Tag ein Federbett am Himmel, die Luft schneidend und österlich, immer noch etwas Schnee in den Mulden, Sprühen, Verwischen, Schmelzen. Ja, hier mußte man Bauer sein, konnte man
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