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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: U Krechel
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zuzwinkerten, als wäre ihre einzige mögliche Kontaktaufnahme ein unschuldiges oder vermeintlich unschuldiges, in Wirklichkeit durchtriebenes Augenspiel. Es war ein Augenzwinkern wie ein Entblößen, und er mußte den Blick senken, was die jungen Frauen zu kränken schien. Zurück im ersten Zimmer, wollte die Angestellte der UNRAA ihn höflich und gleichzeitig zeitsparend verabschieden, aber er blieb angewurzelt dastehen. Ich bin Jurist, ich bin Richter, ich möchte in meinem Beruf so bald wie möglich arbeiten. Sie sind DP, sagte die Frau, Sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft verloren. Ich bin für Sie als DP verantwortlich, aber nicht für Sie als Arbeitssuchenden. Gehen Sie zum Landratsamt, dem ist ein Arbeitsamt angeschlossen. Dort sitzt ein sehr guter Mann. Den hat man 33 entlassen und 45 wieder eingestellt, als sei nichts gewesen. An den wenden Sie sich. Glaser werden gesucht, Maurer und Hilfskräfte in der Landwirtschaft, von Richtern weiß ich nichts. Und dann verabschiedete sie ihn mit einem kurzen, freundlich gemeinten, aber doch geschäftigen Kopfnicken.
    Dieses Ergebnis wollte Kornitzer doch zuerst mit seiner Frau besprechen, wie er früher vieles mit ihr besprochen hatte, Geschäftsergebnisse, Zukunftspläne, Phantasien, die gar nicht so fern vom Weg lagen. Also machte er sich nach Bettnang auf den Weg, die gewundene Straße hinauf, der Rückweg dauerte länger als der Hinweg, ja, die Straße war sehr steil, eine Welt aus Schneewehen und eben erblühenden Apfelbäumen dehnte sich zwischen dem Seeufer und dem steil aufsteigenden Allgäu-Hang, alles verlangsamte und verkühlte sich. Und im Aufstieg sah er immer wieder zurück, zum See, zu den hohen Bergen, zu der begnadeten Landschaft der Gipfel und zu den Rüschen von Schnee im Straßengraben. Die Zeit war jetzt eine Erfahrungszeit. Das Gehen pufferte seine Erfahrung als Antragsteller und trennte sie von seiner Erfahrung als verunsicherter Ehemann, und die Zeit, die er in Claires Zimmer auf ihre Rückkehr aus der Molkerei, in der sie Arbeit gefunden hatte, wartete, war eine zeitlose Zeit. Dann kam Claire mit dem Postbus, sie hatte gerötete Backen, aber sie war auch ermüdet nach einem Arbeitstag im Sekretariat, einer Arbeit, die sie kaum kannte, denn sie hatte in Berlin (damals, bevor sie sich trennen mußten) natürlich eine eigene Sekretärin. Und was er ihr mitzuteilen hatte über seine erste Begegnung mit der Hilfsorganisation auf deutschem Boden, war rasch erzählt, schmolz wie Schnee in der Frühjahrssonne. Ruh dich aus nach der langen Reise, sagte Claire, geh erst in ein paar Tagen zum Arbeitsamt.
    Vieles war abgeschnitten, abgefallen, aber glücklicherweise nicht seine Wahrnehmungsfähigkeit, nicht seine Fähigkeit, Freude zu empfinden, eine übergroße Freude. Und daß er sie empfand, ja, daß auch sein zaghaftes Ankommen eine Freude war, verdankte er einzig und allein seiner Frau. Er zögerte, nach zehn Jahren der Entfernung sie noch „seine Frau“ zu nennen. Aber sie hatte ihn überwältigt mit ihrer Sicherheit: sie wollte ihn wiederhaben als „ihren Mann“, das hatte sie amtlich niedergelegt, und so hatte er es gelesen. Und um ihn wiederzuhaben, dazu hatte sie die vernünftigsten Schritte unternommen.
    Er sah aus dem Fenster, sah den Zwiebelkirchturm, dahinter ging eine mächtige Sonne unter, eine pralle Frucht, Südfrucht, die Berge glühten, und etwas glühte in ihm. Ja, hier zu sein, bei Claire zu sein, war gut. Er glühte, es befeuerte ihn, eine Arbeit zu finden, für die er geschaffen war. Eine Tätigkeit, die ihn ausfüllte und ernährte und Claire und die Kinder dazu. Der Weiler Bettnang mit seinen sechs, sieben Höfen hatte kein Gasthaus, die Bewohner saßen abends auf der Bank vor dem Haus, manchmal kam ein Nachbar dazu. Sie tranken Most und sahen in die blaue Luft, die für Kornitzer eine fremde blaue Luft war. Da wollte sich Kornitzer doch nicht dazusetzen. Der Weiler hatte eine Zwergschule, einen Schuhmacher, eine Sennerei und einen kleinen Laden („Geschäftle“, sagten die Leute), in dem die nötigsten Alltagsdinge zu kaufen waren, Zwieback für alle Fälle, Sauerkraut im Faß, Streichhölzer und Gummibänder und Näh- und Sicherheitsnadeln und Zwirn. Die meisten Lebensmittel, Milchprodukte und Obst, kamen von den Höfen und aus den Gärten, im Laden war für sie kein Bedarf.
    Kornitzer schlüpfte gern in die kleine Kirche, goldgefaßte Altäre links und rechts und eine wie ein Schwalbennest hoch an die Wand
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