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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: U Krechel
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gemeinsame Handlung, die den Grund hatte, eine Privatheit herzustellen. Einen Vorhang, der sich vor das Paar schob, als es sich in Claires geblümtem Zimmerchen im Haus 6 eines Weilers mit dem Namen Bettnang zurückzog, in dem ihre einzigen geretteten Kostbarkeiten ein Plattenspieler und eine Schreibmaschine waren. Die Schreibmaschine glaubte er noch aus Berlin zu kennen, sie hieß „Erika“, und ihre Hebelmechanik hatte unverdrossen den ganzen Krieg und die Evakuierung überstanden. Hut ab vor „Erika“, und eine der ersten triumphierenden Bemerkungen, die Claire ihrem zurückgekehrten Mann gegenüber machte, war: Ich habe eine ganze Menge Farbbänder gehortet, Farbbänder waren angeblich nicht kriegswichtig, oder man hatte vergessen, sie als kriegswichtig zu erklären. Und sie nehmen sehr wenig Platz in einem Fluchtgepäck ein. Wir können also Anträge und Briefe schreiben, die eine gute Form haben. Darauf wußte er nichts zu sagen, er nickte nur, er sah, wie vorausschauend sie gehandelt hatte. Er hatte auch überlegt, was er mitbringen sollte von der langen Reise. Kaffee? Tabak? Süßigkeiten? Südfrüchte? Dokumente seiner Tätigkeit? Aber die Bestimmungen änderten sich fast jeden Tag, was heute erlaubt war, war aus politischen oder hygienischen Gründen (oder aus praktischen Gründen, die sich hinter ideologischen oder ganz unerfindlichen Gründen verbargen, aus Gründen der Zoll-Erfassung vielleicht) plötzlich verboten. Niemand wußte es. Was sprach gegen ein Säckchen Zucker? Was sprach gegen die noch vor einem Monat erlaubte Menge von Parfum und Tabak? Man stand wie ein Idiot da, und vielleicht war genau das der Sinn der sich dauernd widersprechenden Maßnahmen.
    Hier ist der Waschtisch, sagte Claire, ich habe kein fließendes Wasser. Den Schrank sah er selbst, auch das Bett, schmal, fast jungfräulich sah es aus, die wackligen Stühle. Er sah in Claires Gesicht eine Scham, eine Kränkung. Und er sah auch ihre Handbewegung, die ein bißchen nonchalant war, daran erkannte er ihr früheres Selbstbewußtsein: Bitte, so ist es nun mal, so ist es gekommen, er sah das Licht der kleinen Nachttischlampe und das lächerlich dünne Bändelchen, mit der man sie an- und ausknipsen konnte. Und das Paar, das erst wieder lernen mußte, ein Paar zu sein, knipste sie aus. Dann war es dunkel, und die Dunkelheit war ein Tasten, eine Blindenschule des Empfindens, eine Klippschule, ja wirklich nur ein Tasten und Atmen. So waren sie an diesem ersten Tag nicht weiter gekommen als bis zur ersten Empfindung „Bist du’s, bist du’s wirklich?“ und zur Bestätigung: „Ja, du bist’s.“ Vielleicht war darin schon eine leise Überforderung. Es war nicht abzusehen, wie und wann die Familie je wieder zusammenkommen könnte. Noch handelte es sich um zwei versprengte Menschen, die von ihren Menschenkindern kaum etwas wußten.
    Am nächsten Tag machte er sich auf den Weg in die Stadt, die gewundene Straße entlang, vorbei an Wiesen und allein gelegenen Höfen, immer die Bergketten im Blick, die Fältelungen der Gebirgsmassen, Wolkenbänder, die darüber festgezurrt waren. Als er gut eine halbe Stunde gegangen war, kam Quellbewölkung auf, schneeweiße Wolkenhalden schoben sich ineinander, ein plastisches, haptisches Wolkengerangel mit ganz ungewissem Ausgang. Fuhrwerke überholten ihn und der Postbus, er wollte aber gehen, wollte so lange gehen, bis vor ihm an einer Straßenbiegung der See auftauchte. Das Grau der Luft, das sich wie ein zarter Schleier über die Wasserfläche breitete. Er ging sechs Kilometer immer bergab, es war ein Sacken in den Kniekehlen, etwas gänzlich ungewohnt Körperliches, das ihm gefiel, etwas Wanderburschenartiges. Und er war doch ein Mann Mitte vierzig, der schon sehr viel, zu viel erlebt hatte.
    Die innere Stadt, das hatte er bei seiner Ankunft gar nicht recht beachtet, war eine Insel, die durch die lange Brücke mit dem festen Land, dem Bauernland, verbunden war. Am Ufer Villen, Gartenanlagen, eine feine Gegend. Er sah auch gleich, daß viele der Villen von französischen Offizieren und ihren Dienststellen requiriert worden waren, Wachposten standen davor. Dann jenseits der Brücke die Holzschindelhäuser, die überkragenden oberen Geschosse, überkragende Dächer mit Schwalbenschwanzgauben. Die Stadt Lindau tat so, als wäre sie ein Ding außerhalb von Raum und Zeit. Dieser Gedanke gefiel ihm, aber er konnte ihn nicht weiterdenken und keine Schlüsse daraus ziehen. Etwas lullte ihn ein, und es
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