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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: U Krechel
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geklebte Kanzel. Die goldenen Heiligen auf beiden Seiten des Hauptaltars träumerisch unter ihren Bischofsmützen, am rechten Seitenaltar ein Sebastian, dem die Pfeile regelmäßig wie ein Muster in seinem schön geschnitzten und bemalten Fleisch steckten und der mild und süßlich auf die Beter herablächelte. Alles war auf eine behagliche Weise gelungen, erprobt seit Jahrhunderten und nie aufgegeben. Selbstsicherheit einer bäuerlichen Kultur, die keine Fragen stellt und nicht in Frage gestellt werden will. Claire nahm die knappen Kirchenbesuche ihres Mannes eher ironisch auf, sie war Protestantin durch und durch, das Ausufernde, in Gold Getauchte, die Stuckgirlanden waren ihr fremd, die verzückten Heiligengesichter stießen sie ab. Aber wenn Kornitzer so für eine kurze Rast in dem Kirchlein bei den goldgefaßten Heiligen saß, hätte es ihm auch oder vielleicht besser bei Katholiken gefallen. (Claire besuchte die protestantische Stadtkirche ab und zu und machte nicht viel Aufhebens davon.)
    Die kleine Dorfkirche mit ihrem Bedeutungshof beherrschte den Weiler, von der Stufe zur Kirchentür aus hatte man den schönsten Blick. Ein Kranz von Grabstätten scharte sich um die Kirche, lehnte sich an die Friedhofsmauer. Die Grabsteine blickten mit großen, dem Tod entgegengesetzten Augen in die Gebirgslandschaft, wärmten den Rücken an der Kirchhofsmauer für eine Generation oder länger, bis die nächsten Toten Platz brauchten. Kornitzer sah die unerhört weiten Fältelungen der Berge, das Eisige, das Kalte, Granitene, es wunderte ihn nicht, daß frühere Reisende die Alpen für feindlich, ja für häßlich gehalten hatten und den Vorhang der Kutsche zuzogen, wenn die Gebirgsmassen ins Blickfeld kamen. Und dann spazierten die Augen ins Dorf zurück. Die Kirche, der Friedhof, das Pfarrhaus mit den verblichenen roten Fensterläden, das Feuerhaus und eine Handvoll Höfe, breit hingelagert, vorne die Scheunen, dahinter im rechten Winkel angebaut die Kuhställe. Manchmal reichte der Platz zur Straße hin noch für einen Blumenzwickel. Zwischen den Schenkeln von Wohnhaus und Stall thronte der warme Misthaufen. Er war ein Zentrum des Hofes, die Hühner kratzten darauf herum, pickten nach Würmern und Maden, verdrehten rechthaberisch die Hälse, und der Hahn bewachte sie. Kornitzer war nie längere Zeit auf dem Land gewesen, vielleicht bei Wanderungen oder Durchquerungen einer Landschaft zu einem bestimmten Ziel. Bettnang mit seiner betörend schönen Lage über dem See beeindruckte ihn, der Schuster klopfte auf dem Eisen herum, die Kühe muhten, die Hühner gackerten, zweimal am Tag kam der Postbus, und sonst war es so ruhig, daß er seine eigene Unruhe zum erstem Mal, seit er am Bodensee war, schmerzhaft spürte.
    Claire bedeutete ihm, daß das Dorf jetzt leer sei und in sich selbst ruhe. Um die gleiche Zeit, als sie ins Dorf gekommen war, also im Januar 1944, seien im Klassenverband Schulkinder aus dem Ruhrgebiet gekommen. In einer panischen Aufregung sei das Dorf vor der Masse der Unterzubringenden erstarrt. Und der Lehrer, ein Hemd im Winde, ein Mann an der Pensionsgrenze, habe die Kinder, die in Listen gesammelt und numeriert worden waren und ihre Nummer auf einem Schild um den Hals trugen, vom Bahnhof auf die Höhe des Dorfes gebracht. Ob auch die Stadt am See so viele Kinder aufnehmen mußte, wußte Claire nicht, eher nicht, eher gehörten die Kinder in die Dörfer, keiner kannte das Schicksal der Städte, so war die Meinung, und sie war ja nicht falsch gewesen. An der Postbushaltestelle habe der Lehrer die Kinder aus dem Ruhrgebiet aufgestellt, aus welcher Stadt sie kamen, hatte sie vergessen, eins neben dem anderen in Reih und Glied, Kinder mit Rucksäcken und Köfferchen und aufgeregten Gesichtern. Die Bäuerinnen seien aus den Häusern gekommen und hätten sich für ein, zwei Kinder entschieden. Ihre Bäuerin, Frau Pfempfle, habe Mädchen aufgenommen, neben ihren großen Jungen wollte sie Mädchen auf dem Hof haben, kleine städtische Mädchen, die die Kühe anstaunten wie Wundertiere und die warme Milch gleich im Stall tranken und sich danach schüttelten. Der Hof habe auch einen polnischen Knecht gehabt, sagte sie. Also einen Zwangsarbeiter, fiel er ihr ins Wort und dachte an den jungen Mann mit dem fehlenden Schneidezahn, den er im Büro getroffen hatte. Claire ignorierte seinen Einwand: Kein Mensch habe Zwangsarbeiter gesagt, die Bauernhöfe hätten ohne Knechte gar nicht existieren können. Ihr Knecht habe
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