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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung
Autoren: Henry Miller
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den gewöhnlichen Geist so tief verwirrt. Weder der Mensch, der sich weigert mitzumachen, noch der Mensch, der mitmacht, ist notwendigerweise schuldig. Die Frage der Verantwortlichkeit für Massenmord geht tiefer als die Bereitschaft zum Blutvergießen oder dessen Ablehnung. Beide, der, der tötet, und der, der sich vom Töten zurückhält, können im Recht sein, aber sie können ebensogut im Unrecht sein. Der Mensch, der keinen Finger rührt, kann schuldiger sein als der Mensch, der für den Tod Tausender verantwortlich ist. Nur ein pazifistischer Eiferer würde, zum Beispiel, einen Mann wie General Eisenhower als ‹schuldig› betrachten. Nur kurzsichtige Wesen können die Schuld am Kriege bei Hitler oder Mussolini suchen. Der Krieg geht, ebenso wie der Friede, uns alle an.
    Es gibt immer einzelne, die, obwohl sie mitten in der Katastrophe leben, davon unberührt bleiben. Ich meine nicht nur körperlich, sondern moralisch und geistig. Sie stehen nicht nur ‹über den Schlächtern, sie stehen jenseits des Bereichs der Schicksalhaftigkeit. Sie sind außer jeder Gefahr, weil sie es, obwohl sie sich körperlich nicht entziehen können und wollen, von Anfang an in ihrem innersten Herzen vorgezogen haben, nicht mitzumachen. Sie haben nicht das Herz für solche Dinge , wie man zu sagen pflegt. Der Wein, den sie an der Quelle tranken, hilft ihnen, sich zu erinnern. Nur die Reinen erinnern sich, nur die Reinen bleiben unberührt, und zwar nicht aus freier Wahl, sondern aus Notwendigkeit. Für sie ist das Reich des Zufalls nicht launisch, sondern tief verständlich. Sie sind sich der Wegrichtung immer bewußt, genauso wie sie immer die wahre Identität derer erkennen, die vor ihnen stehen. Sie überlassen nichts dem Zufall; für sie geschieht alles gesetzmäßig und ist daher in Ordnung. Sie mühen sich nicht damit ab, die Dinge in Ordnung zu bringen und befassen sich nicht damit, Gutes zu tun. Sie haben sich dem Dienst am Leben verschrieben; sie dienen freiwillig, sie wurden nicht dazu gezwungen. Folglich fordert sie das Schicksal niemals heraus, ‹Partei› zu ergreifen; sie werden nie an den Hörnern eines tragischen Dilemmas gekreuzigt. Die aufgewühlten Wogen eines Konfliktes brechen, bevor sie bis zu ihnen vordringen; sie werden nie in den Strudel gerissen.
    Für solche wie meinen Freund Fred dagegen schaffen Kriege und Revolutionen eine Gelegenheit, ‹sich zu verlieren)., Für sie ist es wichtig, Partei zu ergreifen, nicht um dem Rechten zu helfen, nicht um ein heldenhaftes Werkzeug der Gerechtigkeit zu werden, sondern um die Bedeutung des Opfers zu erfahren. Oft werden sie durch ihre Teilnahme immun. Nicht gegen die Wagnisse und Gefahren des inneren Engagements, sondern gegen Unrecht und feige Selbsttäuschung. Sie entdecken eine unsterbliche Wirklichkeit, in der es nie mehr den Schmerz der Trennung geben kann. Sie haben die Heimat gefunden angesichts der Quelle und sind in der geistigen Welt genauso lebendig wie in der fleischlichen. Einige von ihnen, als ‹verloren› betrauert, finden Freiheit im Tode. Andere, die das anonyme Leben des kleinen Mannes leben, genießen den Vorzug, ihre Freiheit im Leben darzutun. Das sind die unsterblichen Geister, die im Einvernehmen mit dem Gesetz leben und entdeckt haben, daß Sieg und Ewigkeit gleichbedeutend sind. Sein eigenes Leben zu leben, es zur Erfüllung zu bringen, trägt den Lohn der Unsterblichkeit in sich. «Was jetzt lebt und für immer vom Tode frei ist», so lautet die Definition der Unsterblichkeit. Doch die Definition könnte auch lauten: «Was lebt, ist für immer vom Tode frei.» Das ist die Bedeutung, die die Metamorphose vom Sterblichen zum Unsterblichen bringt. Der Unsterbliche ist der Sieger: er hat Zeit und Tod überwunden. Er hat über das ‹Geschöpf› triumphiert, indem er durch die Opferfeuer gegangen ist. Indem er jedem Anspruch auf ein persönliches Überleben entsagt, wird er unsterblich. Wenn er sich an den Weg zurückerinnert, wirft er alle Hindernisse über Bord, die er sich selbst in den Weg gelegt hat (kurz: er vergißt). Für ihn gibt es die Fallstricke der Welt nicht mehr: wie eine Spinne - so wird ihm klar - hat er das komplizierte Fangnetz aus seiner eigenen Substanz gesponnen. Frei von der Welt, ist er frei vom Schicksal. Er schiebt das Leben nicht länger hinaus. Die Vergangenheit ist gesühnt und also ausgelöscht; die Zukunft, ihres Zeitablaufs beraubt, hat keine Bedeutung. Die Gegenwart löst sich im All auf, das keinen Anfang
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