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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung
Autoren: Henry Miller
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er hin und wieder zum Besten gab, Geschmack. In der Regel wurden diese Erinnerungen geweckt, wenn wir unsere Gürtel enger schnallten. Ich erinnere mich an einen solchen Fall in der Villa Seurat, wo ich mich einmal nach achtundvierzig Stunden ohne einen Bissen auf die Couch warf und erklärte, dort liegen bleiben zu wollen, bis ein Wunder geschehe. «Das kannst du nicht machen», sagte er, einen Ton ungewohnter Verzweiflung in der Stimme. «Das ist genau das, was ich einmal in Rom gemacht habe. Ich wäre fast gestorben. Zehn Tage lang kam kein Mensch.» Das gab ihm den Anstoß. Er redete so viel von längerem und ungewolltem Fasten, daß er mich zu Taten aufstachelte. Aus irgendeinem Grund hatten wir aufgehört, an die Möglichkeit eines Kredits zu denken. In den alten Tagen war das Pumpen leicht für mich gewesen, weil ich ahnungslos war und die Art der Franzosen nicht kannte. Aber irgendwie verlor ich, je länger ich in Paris lebte, immer mehr den Mut, einen Gastwirt um Kredit zu bitten. Der Krieg rückte immer näher; die Leute wurden immer nervöser. Schließlich, gegen das Ende zu, als man wußte, daß der Krieg nicht mehr abzuwenden sei, begannen sie aus sich herauszugehen. Es war jene Ausgelassenheit der letzten Minute, die anzeigt, daß das Faß zum Überlaufen voll ist.
    Unsere Ausgelassenheit, die immer gleich geblieben war, kam aus der tiefen Überzeugung, daß die Welt nie ins Lot kommen würde. Wenigstens nicht für uns. Wir würden immer en marge leben und uns von den Brosamen, die vom Tische des Reichen fielen, mästen. Wir versuchten, ohne jene wesentlichen Dinge auszukommen, in die der gewöhnliche Bürger verwickelt ist. Wir wollten keinen Besitz, keine Titel, keine Versprechen auf bessere Zustände in der Zukunft. «Von heut auf morgen» war unsere Devise. Um auf den Grund zu stoßen, brauchten wir nicht tief zu sinken. Überdies waren wir elastisch. Auf uns konnten keine sehr schlechten Nachrichten warten; wir hatten sie alle schon oft gehört. Wir waren sie gewohnt. Wir hielten immer Ausschau nach unerwarteten Glücksfällen. Wunder geschahen nicht ein- oder zweimal, sondern oft. Wir verließen uns auf die Vorsehung, wie ein Gangster sich auf sein Schießeisen verläßt. In unserem Herzen glaubten wir ehrlich, mit der Welt in Frieden zu leben. Wir handelten in gutem Glauben, auch wenn das für einige patriotische Seelen nach Hochverrat aussah. Heute kommt es mir merkwürdig vor, daß ich Durrell und Fred kurz nach der Kriegserklärung schrieb, ich sei überzeugt, daß sie es ohne einen Kratzer überstehen würden. Bei Edgar war ich nicht so sicher. Aber auch er hielt sich über Wasser. Was niemand voraussehen konnte, war, daß Edgar Freude am Krieg hatte! Ich meine damit nicht, daß er an den Greueln Freude hatte; er genoß es, seine Neurose zu vergessen.
    Sogar Reichel, der verloren schien, kam ungeschoren davon. All diese Männer - und ich sage das nicht, weil sie meine Freunde waren - alle waren saubere, ehrliche Seelen, innocents, wenn das Wort noch etwas bedeutet. Trotz der Knüffe, die ihnen das Schicksal verabfolgte, waren sie dazu bestimmt, unter einem Zaubersegen zu leben. Ihre Probleme waren nie die Probleme der Welt. Ihre Probleme reichten tiefer, viel tiefer. Abgesehen von dem ausgesprochen geselligen Durrell waren sie alle einsame Menschen. Reichel mehr als irgendeiner von den anderen, möchte ich sagen. Reichel lebte erschreckend abgesondert und allein. Aber gerade das machte es so wundervoll, wenn er einen Raum voller Leute betrat - oder vielmehr zu der Gesellschaft einiger ausgesuchter Freunde stieß. Sein Verlangen nach Kameradschaft und Gemeinschaft war so groß, daß es, wenn er eine Versammlung betrat, manchmal schien, als habe eine Bombe eingeschlagen.
    Nie werde ich jenen Weihnachtstag vergessen, den wir - Reichel, Fred und ich - miteinander verbrachten. Um Mittag herum tauchten sie auf und erwarteten selbstverständlich, daß ich Essen und Wein zur Hand hatte. Ich hatte nichts. Nichts als einen harten Brotkanten, an dem ich vor Überdruß nicht nagen mochte. Ach ja, ein Tropfen Wein war auch noch da - etwa ein Fünftel einer Literflasche. Das weiß ich noch genau, denn was mich später, nachdem sie gegangen waren, faszinierte, war der Gedanke, wie lange diese magere Portion Wein gereicht hatte. Ich erinnere mich auch ganz deutlich, daß der Brotkanten und die fast leere Flasche lange Zeit unberührt in der Mitte des Tisches standen. Vielleicht gerade weil es Weihnachten
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