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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung
Autoren: Henry Miller
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wieder durchexerzieren, bis du deinen Erfahrungen auch den letzten Tropfen von Bedeutung ausgepreßt hast.» Gut, das sah ich ein. «Aber am Ende», bekannte ich, «ist es doch wahr, daß man die Erinnerung an alles Vergangene verliert.» Ich sagte das zu mir selbst, nicht zu Edgar. Edgar gegenüber war es, wie sich leicht denken läßt, ratsamer, rasch nachzugeben. Nicht zu schnell freilich, denn sonst wurde er mißtrauisch.
    Doch Freds Ansicht darüber war, daß sich der Mensch hier auf Erden erinnern solle. Das war zugleich neu und beunruhigend. Neu, weil niemand Erinnerung als eine ‹Sendung› auffaßt; beunruhigend, denn was würde einer dann im Devachan tun? Wollte er damit sagen, daß das Nirwana schon in diesem Leben erreicht werden soll? Hatte er plötzlich erkannt, daß er jetzt ein für allemal war, «was oder wer immer er war», und daß alle Vergangenheiten zu dieser endlosen Gegenwart führten, in der Sein und Schau eines waren? Hatte er seinen letzten Tod erlebt, und äußerte er seinen unschuldigen und sentenziösen Satz als Unsterblicher? Natürlich schössen mir diese Gedanken nicht sofort durch den Kopf. Sie fielen mir später ein, zusammen mit unzähligen anderen, in Augenblicken plötzlicher Erinnerung. Aber immer begleitet etwas Unerwartetes die Erinnerung an jenen Satz, etwas, das jenseits seines unbeschreiblichen Ausdrucks und der unbeschreiblichen Erschütterung lag, die wir alle gleichzeitig empfanden. Dieses Etwas kann ich nicht aufzeigen. Ich kann nur Andeutungen, eingefangene Nachschwingungen geben.
    All das geschah vor etwa sieben Jahren. Man erinnert sich an viele seltsame, aufregende, unerklärliche Vorfälle und Situationen. Irgend etwas darunter tritt oft lebendiger und häufiger hervor als das übrige. Seine unenträtselte Bedeutung wächst mit dem Lauf der Zeit. Es scheint andere auffällige Begebenheiten in sein eigenes Magnetfeld hineinzuziehen, um ihnen einen Brennpunkt oder eine ganz neue Richtung zu geben. Wenn es vor und über allem anderen im Gedächtnis bleibt, dann muß das einen tieferen Grund haben. Unsere Fähigkeit, gewisse schmerzhafte Erfahrungen zu vergessen, kommt nur jene gleich, uns an anderes zu erinnern. Was verschüttet ist und was lebendig bewahrt wird, scheint gleiche Wichtigkeit zu haben. Das eine wirkt unterirdisch, das andere in ätherischen Bereichen. Aber beides ist ewig wirksam.
    In einem von Freds Büchern ( ‹Le Renégat› ), in dem er, wie ich sehe, den Satz dadurch wiedererweckt hat, daß er ihn einer anderen Person in den Mund legt, betont er, daß man viel vergessen müsse, bevor man sich erinnern könne. Den Abschnitt, in dem er gegen Ende des Buches des längeren beim Thema «Erinnerung» verweilt, leitet ein höchst bedeutsa it Satz ein. Der Erzähler und eine Frau namens Iris Day sitzen bei einem Abschiedsessen. Ein Wein wird hereingebracht, der ihm, wie er sagt, fast augenblicklich zu Kopf steigt und ihn mit einem Gefühl großer Heiterkeit und Klarheit erfüllt. «Es ist ein Wein», so wird ihm erklärt, «der lange vor Bacchus getrunken wurde. Er kommt von den Ufern des Eridanus, wo das Wasser reiner und durchsichtiger ist als irgendwo anders ... Man sagt [und das ist der Satz, den ich für wichtig halte], er bringe den Kranken Vergessen und den Reinen Erinnerung .»
    Dann sagt der Erzähler: «Es ist wunderbar! Was ist das? Es ist ein geheimnisvolles Licht in mir, das ich nicht beschreiben kann.»
    «Du wirst besser sehen, wenn sich deine Augen daran gewöhnt haben . . . Glaube nicht, es sei der Wein; du bist es: du hast nur den Schlüssel zu dem Schatz gefunden, der dir gehört.»
    «Ich kann mich nicht erinnern, Iris.»
    «Mach dir keine Sorgen: du wirst es schon noch tun . ..
    Es ist die Sendung des Menschen auf Erden , sich zu erinnern ... Es gibt keine Wissenschaft, keine Weisheit, nicht einmal Liebe. Am Ende wird alles zu einem: Erinnerung .»
    Wenn Iris Day dazu übergeht, die Opfernatur der Entsagung zu erklären (wobei die ‹Gegenwart› als Zeitbegriff aufgehoben ist, erfahren wir, daß es das Ziel ist, «die Quelle wiederzufinden, deren man sich jetzt noch nicht erinnert . . .» Dann fügt sie hinzu: «Erst wenn du alles Erworbene geopfert hast, kehrt dir die Erinnerung zurück .. . Mit jedem neuen Opfer kommst du der Quelle näher.»
    Der Erzähler erklärt an dieser Stelle, daß das Zusammentreffen mit Iris Day vorbestimmt war. Wäre er ihr nicht in dem Augenblick begegnet, als er es tat, so hätte sein Leben eine
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