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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Autoren: Michael Schuck
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zufächelten.
    "Jede Woche kam er und war immer sehr freundlich zu mir."
    Pfarrer Alef versuchte sein Gleichgewicht wieder zu finden. Was nicht einfach war. Zog er seinen Arm vom Bett zurück, musste er sich auf ein Kräftemessen mit der alten Frau einlassen, deren Energie und Gewicht nicht zu unterschätzen war. Wollte er sich einfach setzen, war sie ihm zu nah. Er konnte sich nicht entscheiden, also blieb er in einer anstrengenden Stellung, leicht nach vorne gebeugt stehen und überließ der Matrone weiterhin seine Hand. Er hatte ja immer wieder gelesen, dass der Körperkontakt für alte Menschen sehr wichtig sei.
    Aus dem anderen Bett meldete sich eine monotone Stimme: "Und da sind die vier Grundtugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Und da sind die drei Evangelischen Räte: Freiwillige Armut, freiwillige Jungfräulichkeit, vollkommener Gehorsam. Und da sind die fünf Gebote der Kirche: Du sollst..."
    Der Rest ging in einem wässerigen Husten unter.
    "Ach, nehmen Sie die nicht ernst", warf die Matrone ein. "Die ist nur katholisch. Und sie hat Angst vor dem Fegefeuer."
    "Das ist ja wohl auch eine ziemlich schlimme Angst", meinte Pfarrer Alef.
    "Glauben Sie denn an das Fegefeuer?" Die Frage der Matrone kam angeschossen wie ein Kriegspfeil mit doppelt geschliffener Spitze.
    Pfarrer Alef setzte sich jetzt doch, klemmte allerdings ein Knie gegen den Stahlrand des Pflegebettes und lehnte sich etwas zurück, um weiteren Einvernahmen seines linken Armes vorzubeugen.
    "Natürlich glaube ich nicht an das Fegefeuer. Aber ich glaube an die Gnade Gottes", stellte er richtig.
    Aus dem Oberbett der Nachbarin tönte es: "Und da sind die drei göttlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Lie..." Wieder dieses Husten.
    Die Matrone war noch nicht zufrieden.
    "Auch nicht an die Hölle?"
    "Ich glaube auch nicht an die Hölle", versuchte Pfarrer Alef sie zu beruhigen. "Jedenfalls nicht an die nach dem Tode."
    Jetzt zwinkerte die Matrone wieder. Aber diesmal war sie nicht koketter Krake, sonder mehr eine misstrauische Geldverleiherin.
    "Was soll das heißen, nicht nach dem Tode?" Ihr neunundachtzigjähriger Körper begann zu wogen. "Der fromme Herr aus Kellen hatte immer so schöne Worte. Jedes Mal, wenn er sprach, musste ich an meine ostpreußische Heimat denken - und an Königsberg, ach, Königsberg. Ich hatte damals die Kantine unter mir und all die jungen Herren Offiziere kamen zu mir."
    "Das war wohl eine schöne Zeit für Sie?", sagte Alef.
    Zwei superhelle Augen blitzten Pfarrer Alef an.
    "Ich habe immer eine schöne Zeit gehabt. Ich erinnere mich nur an die schönen Zeiten. Alles andere habe ich vergessen. Sehen Sie, ich liege jetzt seit fünfzehn Jahren in diesem Bett." Sie machte eine Pause, aber nicht um Mitleidsbezeugungen entgegennehmen zu können. Sie wollte eindeutig Bewunderung, wenn nicht gar Unterwerfung. Sie war die Königin der Bettlägerigen.
    "Das ist eine lange Zeit", sagte Pfarrer Alef vorsichtig.
    "Das war eine lange schöne Zeit", setzte die Matrone eins drauf. "Sie sind ja alle so nett zu mir. Sie können auch gar nicht anders. Ich bin ja auch nett zu ihnen. Schwester!", rief sie unvermittelt mit erhobener Stimme. Alef schrak zusammen.
    Es klirrte irgendwo draußen auf dem Flur. Alef stellt sich unwillkürlich vor, wie die Schwester drei Zimmer weiter eine gefüllte Bettpfanne fallen gelassen hatte und jetzt den Flur entlang geflogen kam. Drei Sekunden später sprang die Türe auf.
    "Ja, Frau Wildt?"
    Da stand sie, Schwester Brigitte, klein, schwarzhaarig, schwarzbrillig, blass, mager, mit unreiner Haut, abgearbeitet. Ihr gegenüber sah die neunundachtzigjährige Matrone aus wie das blühende Leben.
    "Wir verstehen uns doch gut hier?" fragte sie mit süßer Stimme.
    "Ja, Frau Wildt, sehr gut!" bestätigte die Schwester.
    "Sehen Sie, Herr Pastor", triumphierte die Matrone. Sie wandte sich wieder ihrem Opfer zu: "Haben wir etwas zu trinken für den Herrn Pastor?" Das Wort 'Pastor' wurde auf der ersten Silbe betont und hatte ein ganz kurzes 'a' und ein ganz scharfes 's'.
    "Oh nein!" lehnte Alef ab, bereute aber gleich seine Bescheidenheit. Der Blick, den die Matrone ihm zuwarf, machte ihm deutlich, dass er aus der Rolle gefallen war. Zuschauer hatten allenfalls zu applaudieren und sonst nichts.
    Ungnädig wedelte die Matrone mit ihrer freien Hand die Schwester hinaus.
    Alef nutzte die augenblickliche Ablenkung, um der Kranken seine Linke zu entreißen.
    Es gelang ihm, nicht sonderlich höfli
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