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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Autoren: Michael Schuck
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ch, eher ruckartig.
    Er tarnte seine Unternehmen: Befreiung von dem Kraken, indem er nun seine Augen schloss und beide Hände zusammenlegte.
    Diese geballt fromme Geste erinnerte Frau Wildt an etwas.
    "Der fromme Herr in Kellen hatte immer so schöne Worte. Wollen Sie nicht auch etwas vortragen?"
    Alef nickte, hielt aber die Augen weiter geschlossen. Er hatte sich angewöhnt, die Bibel bei Besuchen ganz intuitiv auszulegen. Er ging auch jetzt in sich und wartete, bis sein goldener innerer Finger auf einer bestimmten Seite der Bibel halt machte. Alef seufzte. Das war für ihn immer ein mystischer Augenblick. Jesaja 40.
    Er konnte sich noch gut erinnern, wie er am Anfang seiner Tätigkeit oft ganz verzweifelt das passende Wort gesucht und oft genug nicht gefunden hatte.
    Nun ließ er suchen und es fand sich immer das Richtige, wenn auch sein Verstand manchmal nicht mit der Wahl des goldenen Fingers einverstanden war. Aber Alef hatte im Lauf der Jahre ein Vertrauen zu dieser großen inneren Kraft gefunden, die er nicht nur dazu nutzte, passende Bibelstellen zu finden. War die Wahl getroffen, hinterfragte er sie nicht mehr, sondern brachte sie mit ganzer Kraft in sein Leben ein.
    Alef griff nach der Lutherübersetzung in seiner Tasche. Bei alten Leuten benutzte er immer diese alte Sprache, die sie aus ihrer Jugend kannten. Er selbst mochte mehr die moderneren Übersetzungen.
    Die Matrone faltete fromm die Hände und richtete den Blick an die Zimmerdecke.
    Alef leitete konventionell ein, dann las er den Text ab Vers 28:
    "Weißt du nicht, hast du nicht gehört?
    Der Herr, der ewige Gott,
    der die Enden der Welt geschaffen hat,
    wird nicht müde noch matt,
    sein Verstand ist unausforschlich.
    Er gibt dem Müden Kraft,
    und Stärke genug dem Unvermögenden.
    Starke Menschen werden müde und matt,
    und junge Menschen…
    (hier veränderte Alef das ursprüngliche "Männer" und "Jünglinge", wie er das oft tat bei patriarchalen Texten, in denen die Frauen eindeutig gar nicht im Blick waren)
    …straucheln und fallen;
    aber die auf den Herrn harren,
    kriegen neue Kraft,
    dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
    dass sie laufen und nicht matt werden,
    dass sie wandeln und nicht müde werden."
    Alef wartete, dass sich in seinem Gehirn der Bezug zur Situation deutlicher herstellte. Er sagte: "Ihr Geist, Frau Wildt, Ihr Verstand sind Ihre Füße geworden. Gott hat Sie sozusagen auf den Kopf gestellt. Mir scheint, Sie sind fast schneller geworden, als die, die mit den Beinen laufen."
    Die Matrone zwinkerte im Aufwärtsblick.
    Alef ging über zur Fürbitte, etwa des Inhaltes, dass die Schnelligkeit des Verstandes nicht zum Hochmut, sondern zur Großmut führen sollte.
    Tränen begannen aus den aufwärtsgerichteten Augen der Matrone zu fließen. Ihre starre, fromme Haltung löste sich nicht.
    Alef begann das Unser Vater. Die Matrone sprach es mit. Ihre Nachbarin blubberte es mit. Sie konnten es beide fehlerlos, bis auf diese Stelle: "...und erlöse uns von dem Bösen." Da sagten sie beide: 'Übel', wie es früher einmal üblich war.
    Alef stand auf, segnete die Matrone und ihre Bettnachbarin. Ein überglückliches Gesicht grinste ihn aus den Tiefen des Bettengebirges an.
    Vorsichtshalber hielt er jetzt Abstand von dem Kraken, stand mitten im Raum.
    Die Matrone seufzte, schniefte. Ja, das war schön. Großmütig, das wäre sie immer schon gewesen, sagte sie.
    Alef verabschiedete sich etwas plötzlich und erntete dafür prompt einen harten Blick. Audienzen werden ausschließlich von der Königin beendet und nicht vom Besucher.
    Der Flur des Altenheimes roch nach Essen und Fäkalien. Als Alef zur Treppe abbog, wäre er um ein Haar über Schwester Brigitte gestolpert.
    Sie wich gegen die Wand aus und wandte ihr Gesicht ab.
    Es sah beinahe aus, als bäte sie um eine Ohrfeige.
    "...junge Menschen werden müde und matt", klang es in Alef wieder auf.
    Sie sahen sich an, die Schwester und der Pfarrer. Aber beide waren nicht in der Lage das Schweigen zu brechen. Alef ging weiter. Er hatte an diesem Nachmittag noch vier Besuche in diesem Hause vor sich.
    Als er abends nach Hause kam und die Presbyteriumssitzung vorzubereiten begann, hatte er die Schwester vergessen. Vielmehr blieb der gesamte Nachmittag mit dem Krakenwesen als eine Art dunkler Block in seinem Bewusstsein, der sich des Nachts in schweren Träumen entlud.
    Als er morgens erwachte, fühlte er sich verschwitzt und belastet, als habe er des Nachts gearbeitet, mindestens etwas
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