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Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel
Autoren: Lukianenko Sergej
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verraten, was vor uns liegt?«
    »Das hängt davon ab, in welchen Spiegel du guckst, Diver.«
    »Dann werde ich meine Wahl treffen, Loser. Und sehr penibel dabei sein. Aber jetzt geh!«
    Er zieht seine Hand von unseren weg.
    Zunächst passiert gar nichts. Doch irgendwann krümmt sich die Wand hinter ihm und formt einen Trichter.
    Der Loser geht einen Schritt rückwärts, tritt in den glitzernden Tunnel hinein, der ins Unbekannte führt. Zu einer blauen Sonne, unter der orangefarbene Bänder dahinschießen. In seine Welt.
    Sein Körper zittert und zerfließt. Kaskaden bunter Funken stieben von seiner Haut auf. Ganz kurz glaube ich, dass ich … denjenigen sehe, der in unsere Welt gekommen ist.
    Aber wahrscheinlich will ich dem Wunder nur einen Namen geben.
    »Vergiss uns nicht!«, rufe ich den verschwimmenden Lichtreflexen nach. »Behalt uns so in Erinnerung, wie wir sind!«
    Das Haus fängt an zu beben. Die Wände werden erst durchsichtig, dann blassgrün, dann zu Ziegelsteinen, dann zu Papier. Die Decke kriecht nach oben und wölbt sich zu einer Kuppel. Der Boden verwandelt sich in einen Spiegel,
das Licht im Fenster funkelt in allen Farben des Spektrums und brennt unsere Silhouetten auf die Papierwand.
    Die Wohnung ist ein riesiger Saal, der in alle Himmelsrichtungen extrem gedehnt scheint.
    Der Tunnel schließt sich sehr langsam. Noch könnte ich es schaffen. Noch könnte ich dem Loser hinterherspringen und mir ansehen, woher er gekommen ist. Dem Wunder die Maske vom Gesicht reißen.
    »Ljonja, was ist das?!«, schreit Vika.
    »Das sind Daten«, antworte ich. Durch die Wohnung weht mit einem Mal Wind, auf dem Fensterbrett erblüht in einem Blumentopf ein Zimmergranatapfel, der Stapel CDs auf dem Regal fängt an, alle Songs gleichzeitig zu spielen. »Er lädt Daten! Um alles mitzunehmen, was er hier erlebt hat!«
    Halbtransparente Schatten wabern durch uns hindurch. Da stürmt Alex mit dem Gewehr im Anschlag vorwärts, krabbelt die Riesenspinne, ein Bein vors andere setzend, durch unsere Körper, da verschwindet jene fiktive Familie im Tunnel, die wir im Labyrinth gerettet haben. Sich wie ein Propeller drehend fliegt ein gigantischer Baum in den Trichter, der Hobbit trippelt ihm mit erschrockenem Blick hinterher. Mit gewaltigen Sprüngen folgt einer der Bodyguards des Mannes Ohne Gesicht, auf dessen Rücken ein Jet Pack Feuer speit.
    Schließlich wandern auch Vika und ich in den Tunnel. Wir halten uns bei den Händen.
    »Vergiss uns nicht!«, sage ich. »Behalt uns so in Erinnerung …«

    Der Tunnel wird enger und enger, genau wie die Blende eines Fotoapparats. Im letzten Moment quetschen sich, mit den kleinen Flügeln schlagend, die Latschen des Computermagier hinein.
    Dann verwandelt sich das Zimmer zurück.
    »Ich glaube trotzdem nicht, dass er ein Alien ist«, sagt Vika. Unsicher, aber stur. »Wenn er ein guter Hacker ist, kann er so was …«
    Sie verstummt, als ich sie umarme.
    »Lass doch, Vika«, bitte ich sie. »Er ist weg. Für immer. Da müssen wir uns doch nicht mehr seinetwegen streiten. Jetzt können wir einfach an ihn glauben.«
    Auf der Straße bricht Lärm aus, es wird lautstark diskutiert. Haben die Leute da unten auch nur ein Bruchteil dessen gesehen, was wir beobachtet haben? Egal. Die Tiefe hat soeben eine neue Legende hervorgebracht.
    »Er ist weg, aber wir sind noch da«, hält Vika fest. »Und du wirst nach wie vor gejagt.«
    Ich nicke, löse mich vorsichtig aus unserer Umarmung und trete ans Fenster, um nach unten zu spähen. Der Mann Ohne Gesicht will sich immer noch nicht vom Fleck rühren.
    »Der Diver Leonid sollte ebenfalls gehen«, sage ich.
    »Tut es dir um dein Haus leid?«, erkundigt sich Vika. Was für eine Wohltat, wenn du nichts zu erklären brauchst.
    »Ein bisschen. Wie um mein Dreirad.«
    Ich drehe mich ihr wieder zu und umarme sie. Ihre Lippen finden meine.
    Und das ist das, was für immer bleibt.
    Tiefe  … rufe ich schweigend.

    Als der Server im fernen Minsk diesen Befehl empfängt, erbebt das Haus zum zweiten Mal. Der Magnetkopf setzt sich in Bewegung und löscht die Daten.
    Eine Umdrehung – und das Parterre mit dem jähzornigen Rentner existiert nicht mehr. Eine weitere – und der fünfte Stock mit dem stillen Schreiberling ist weg, noch eine – und es erwischt den neunten Stock mit dem Sammler von Vinylplatten.
    Nun übernimmt mein Rechner das Kommando, und die Wände der Wohnung verblassen. Obwohl ich nicht zum Bildschirm hinüberschiele, weiß ich, dass
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