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Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel
Autoren: Lukianenko Sergej
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vonstattengehen, Schritt für Schritt. Mit jeder Stufe nach oben weicht der falsche Glanz von den Wänden, erwachen die leeren Wohnungen zum Leben. Ich werde dieses Haus nie wieder betreten.
    Das Weinen eines Kindes und das Tropfen eines kaputten Wasserhahns, das Bellen eines Hundes und der Klang von Gläsern bei einem Toast. Ich habe nichts, woran ich mich erinnern könnte, und nichts, dessen Verlust ich beweinen müsste. Das hier sind meine Krücken gewesen, aber inzwischen habe ich gelernt, ohne sie zu gehen.

    Die letzte Biegung der Treppe. Ich bleibe kurz vor meiner Tür stehen, die aus Diamantkörnern besteht. In jedem einzelnen von ihnen spiegelt sich mein winziges Gesicht. Eines von meinen vielen Gesichtern, die ich mir in der Tiefe aufsetze.
    Ich hauche gegen die Tür. Die Diamanten werden trübe, verblassen, verwandeln sich in Eisbrocken und tropfen zu Boden. Weine um mich, Tiefe . Denn ich habe nichts, worum ich weinen könnte.
    Schon beim Betreten der Wohnung registriere ich, dass alles unverändert ist. Hier haben Dibenkos Programme versagt.
    Der Loser und Vika stehen am Fenster und blicken auf die Straße hinunter.
    Ich trete an sie heran. Vika greift schweigend nach meiner Hand, zu dritt verfolgen wir, was sich in Deeptown tut.
    Die Straße quillt über von Menschen. Eine dichte, zu einem einzigen Klumpen verschmolzene Menge. Etwas abseits stehen wie erstarrt die Taxis des Deep-Explorers. Immer mehr Menschen strömen herbei, um dann reglos zu verharren und auf das Haus zu gaffen.
    Nur an einer Stelle direkt unterm Fenster bleibt ein Kreis frei. Er umschließt den Mann Ohne Gesicht, der ebenfalls hinaufspäht, fast als könne er uns sehen. Ich wünschte, dem wäre so.
    »Eigentlich ist er nicht böse«, sage ich zum Loser. »Das ist nur seine Ungeduld.«
    »Ich klage niemanden an«, versichert mir der Loser.
    »Dann geh jetzt«, bitte ich ihn. »Es wird höchste Zeit.«

110
    Er sieht mich sehr lange an, derjenige, der im Körper vom Loser in die Tiefe gekommen ist. Als wolle er bis zu meinem echten Gesicht durchdringen, um zu verstehen, was ich gerade fühle.
    »Bist du sauer?«, fragt er schließlich.
    »Nein. Enttäuscht schon, aber das ist etwas anderes.«
    »Ich habe Angst gehabt, dass du sauer bist. Immerhin habe ich deinen Traum zerstört.«
    »Welchen?«
    »Du hast davon geträumt, dass der virtuelle Raum die Welt ändert. Sie besser macht. Den Menschen Freiheit und Kraft gibt. Dafür hast du alles akzeptiert, was dich gestört hat, über alles gelacht, was dich auf die Palme gebracht hat.«
    Der Loser streckt die Hand aus und legt sie auf die verschränkten Hände von Vika und mir.
    »Du hast daran geglaubt, dass es einen Augenblick … einen einzigen Augenblick geben kann, der alle Sünden und Fehler aufwiegt. Diesen Glauben habe ich zerstört.«

    Es amüsiert mich sogar, seine Worte zu hören. Sieht er das wirklich so?
    Habe ich das wirklich geglaubt?
    »Es geht nicht um die Tiefe , Loser«, sage ich. »Nicht um diese Tiefe .«
    Er nickt.
    »Erinnerst du dich noch an das Spiegellabyrinth, Leonid?«
    Blöde Frage.
    »Die Tiefe hat euch Millionen von Spiegeln gegeben, Diver. Zauberspiegel. In ihnen kannst du dich selbst betrachten. Oder die Welt, jeden einzelnen Winkel von ihr. Du kannst deine Welt designen, sie erwacht zum Leben, sobald ihr sie in diesen Spiegeln erblickt. Das ist ein wunderbares Geschenk. Aber Spiegel sind zu beflissen, Diver. Zu beflissen und zu verlogen. Irgendwann wird die aufgesetzte Maske zum eigentlichen Gesicht. Das Laster mutiert zur Raffinesse, der Snobismus zur Elite, das Böse zur Aufrichtigkeit. Eine Reise durch die Welt der Spiegel ist kein Spaziergang. Es ist nämlich sehr leicht, sich zu verlaufen.«
    »Ich weiß.«
    »Gerade deshalb sage ich es dir: Weil du es weißt. Ich würde auch gern dein Freund sein, Leonid.« Er lächelt traurig, bevor er hinzufügt: »Aber das wäre eine sehr bizarre Freundschaft …«
    »Ein Alien und ein Russe, Brüder fürs ganze Leben?«, stichelt Vika.
    Also hat der Loser sie nicht überzeugt. In keinem Punkt. Für sie ist er ein Mensch, ein gerissener Hacker, der allen das Hirn pudert.

    Obwohl mir zum Heulen zumute ist, bringe ich heraus: »Ich frage dich nicht, wer du bist. Ob du es glaubst oder nicht, aber mir ist das egal. Von mir aus kannst du ein Außerirdischer von einem anderen Stern oder aus einer anderen Dimension sein, aber auch ein intelligenter Rechner. So oder so weißt du mehr als wir. Kannst du uns da nicht
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