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Kurzschluss

Kurzschluss

Titel: Kurzschluss
Autoren: Gmeiner-Verlag
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erreicht?«
    »Nur die Mailbox«, erwiderte Linkohr knapp. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was dies bedeuten konnte.

54
    Die Menschenmenge war aufgesprungen. Ein mehrfacher Schrei des Entsetzens, dann betroffene Stille. Totenstille. Einige Personen standen dicht am Abgrund und sahen mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper hinab auf die dunkelblaue Wasserfläche.
    Doris war kreidebleich geworden, unfähig, etwas zu sagen. Da war ein Mensch ganz plötzlich losgerannt, vorbei an den vielen anderen, die friedlich auf dem Felsplateau gelegen und sich gesonnt hatten – einfach losgerannt war er, dachte Sander, der diesen Menschen noch vor wenigen Sekunden im Visier seiner Digitalkamera gehabt hatte. Mit sieben, acht schnellen Schritten, vielleicht noch mit dem Handy am Ohr, so hatte er sich auf die Felskante zubewegt, ohne dort zu stoppen. Ohne diesen grandiosen Ausblick auf den sonnenbeschienenen Fjord zu genießen. Und dann war er wie ausgeblendet, wie wegretuschiert. Nur noch der Horizont der gegenüberliegenden Seite, nur noch Hintergrund, kein Mensch mehr als Vordergrund.
    Sander durchzuckte ein einziger, völlig unpassender Gedanke: Wie lange dauert es, bis man aus 600 Metern Höhe unten aufschlägt?
    Er hasste diesen Gedanken und versuchte, ihn zu verdrängen. Sander zitterte am ganzen Leib und legte seinen rechten Arm um Doris’ Schulter. Noch immer war Stille um sie herum. Die Fröhlichkeit, das Lachen, das Kreischen der Kinder, die Sommerstimmung – alles vorbei. Die Menschen auf dem Preikestolen waren im Schockzustand.
    Sander rätselte, ob er Häberle anrufen musste – doch auch diese Überlegung war völlig überflüssig. Der Akku des Handys hatte nach dem letzten Gespräch seinen Geist aufgegeben.
    Wieder ein irrer Gedanke. Hab ich eindeutig gesehen, dass der Mann aus freien Stücken in den Tod gesprungen ist?, fragte ihn etwas in seinem Kopf. Oder war da noch jemand, der ihn dazu gedrängt hat – der ihn gestoßen hat? Schwachsinn, kämpfte Sander dagegen an. Da war niemand, ganz bestimmt nicht. Und wenn doch?, meldete sich seine innere Stimme wieder. Wenn doch? Wenn hier jemand war, der anderen nach dem Leben trachtete? Wenn all seine Ängste der vergangenen Tage keine Hirngespinste waren? Sander sah wie in Trance auf die Menschen vor ihm, die sich langsam wieder aus der Schockstarre lösten und zu reden begannen. Bin ich der Nächste?, hämmerte es in seinem Kopf. Sie mussten so schnell wie möglich weg – runter von diesem Berg. Er entschied, dass sie sich unauffällig einer Gruppe anschließen sollten.
     
    *
     
    Inzwischen saß Wollek in einer Zelle des Geislinger Polizeireviers. Häberle hatte sich zwar sofort mit ihm unterhalten wollen, doch war von den Klinikärzten die Information gekommen, dass Silke Rothfuß für eine halbe Stunde vernehmungsfähig sei. Der Chefermittler, der seit dem Vormittag gegen heftige Kopfschmerzen und Darmkrämpfe ankämpfte, spielte für einen Moment mit dem Gedanken, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Dann jedoch gewann sein kriminalistischer Ehrgeiz die Oberhand. Er ließ sich von dem Chefarzt in das Einzelzimmer der Frau führen. Sie wirkte erschöpft, ihre langen blonden Haare lagen wirr auf dem Kissen, ein Infusionsschlauch führte von der Halterung zu ihrem linken Arm.
    Er grüßte freundlich, zog den Besucherstuhl ans Bett und setzte sich. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie in dieser Situation belästige. Aber wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen.«
    »Schon gut«, sagte sie apathisch.
    »Man hat Sie entführt«, stellte Häberle einfühlsam fest und überlegte. »Was uns natürlich interessiert: Kennen Sie die Person?«
    Sie schloss die Augen und schwieg.
    »Es ist jemand, den Sie kennen?«, fragte der Kommissar leise und väterlich.
    Silke Rothfuß sah ihn hilflos an. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie mit belegter Stimme. »Ich kann mich nur ungenau erinnern. Das Auto hat mich überholt … ich hab noch versucht, ihn abzuhängen. Aber draußen im Roggental hat er mich ausgebremst.« Sie holte tief Luft und sah zur Decke. »Maskiert, ja, er war maskiert – mit Wollmütze, ja, so eine Mütze, wie sie Bankräuber übers Gesicht ziehen.«
    »Und dann?«
    »Dann hat er die Tür aufgerissen und mir ein Tuch oder so etwas Ähnliches ins Gesicht gedrückt. Ich saß ja hinter dem Steuer.« Wieder schloss sie für ein paar Sekunden die Augen, als könne sie damit das Entsetzliche ausblenden. Doch es blieb vermutlich ihr ganzes Leben lang ins
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