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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben
Autoren: Andrzej Stasiuk
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Zeit zu Zeit rückte er sie mit der linken zurecht. Wenn sie verrutschte, hob er sie an und legte sie wieder ab wie einen Gegenstand.
    Aber immerhin war dies ein Krankenhaus – scharfer, aseptischer Geruch, glänzendes Linoleum, weiß gekleidete Ärzte und Krankenschwestern, also dachten wir automatisch an Medizin, Heilung, ans Wieder-gesund-Werden. Wir dachten linear: von Punkt A, an dem wir uns befanden, zu Punkt B, den wir zu erreichen hofften. Das Krankenhaus in Rzeszów und danach die zweite Klinik erzeugten die Illusion eines Provisoriums, das es erlaubte, eine Wendung zum Besseren zu erwarten, da das Schlimmste ja schon stattgefunden hatte. Schließlich geht man ins Krankenhaus, um es später wieder zu verlassen. Wir fuhren alle paar Wochen hin und suchten nach dem Augustynvon früher. In seinem gegenwärtigen Körper wollten wir die frühere Person sehen. Wir lauerten auf sie, als müsse sie einfach aus dem Innern dieses stillgelegten und gequälten Körpers zu uns heraustreten. Jetzt sehe ich, wie schwer es ist, diese Erfahrung zu beschreiben – das Gefühl von schrecklicher Fremdheit und zugleich Nähe. Wir fassten ihn an und umarmten ihn, etwas anderes fiel uns nicht ein.
    Nach ein paar Monaten wurde Augustyn ins Haus der Sozialfürsorge nach Dynów verlegt. Das bedeutete, dass die Medizin an ihrer Grenze angekommen und kein Wunder mehr zu erwarten war. Doch in gewisser Weise wendete sich das Schicksal damit zum Besseren. Dynów lag näher an Augustyns Heimat, näher an Izdebki. Im Aufenthaltsraum saßen Bauersfrauen mit Kopftüchern. Im Vergleich zu dem toten, gleichgültigen Krankenhaus hätte Dynów sogar eine Art Zuhause sein können. Es lag im Grünen, und an heiteren Tagen wärmten sich die Heimbewohner in der Sonne. Augustyn saß inzwischen im Rollstuhl. Wir suchten uns einen abgelegenen Platz und führten Gespräche – im Grunde genommen waren sie eine Suche nachden Resten seiner Erinnerung oder laienhafte logopädische Übungen. Alles, was uns blieb, waren Bruchstücke, vage Spuren der Vergangenheit – nur sie stellten noch ein Bindeglied dar zwischen uns und Augustyn. Nur so konnten wir die Gegenwart ausfüllen – indem wir ununterbrochen fragten: Erinnerst du dich an dies, erinnerst du dich an jenes, weißt du noch, wie wir, weißt du noch, wo wir.
    Gleichzeitig gewann Augustyn ganz allmählich, fast unmerklich – wie soll ich mich ausdrücken – etwas zurück. Sein Gedächtnis? Sein Leben? Seine Gedanken? Seine Gefühle? Einzelne Worte? Eines Tages saßen wir am Eingang zur Kapelle des Heims. In der Kapelle beteten einige Frauen. Augustyn hatte immer antiklerikale Ansichten geäußert, und wenn er in den Augen seines Gegenübers Ablehnung wahrnahm, bekannte er sich sofort zur Idee des Kommunismus. Als wir damals unter den Bäumen vor der Kapelle saßen, fragte ich ihn, ob er nicht der Meinung sei, das Leben selbst gebe ihm neuerdings die Chance, sich mit der Kirche auszusöhnen, und ob er sich nicht hin und wieder zu den betenden Frauen mit den Kopftüchern gesellen wolle. Er sah mich von der Seite an, rollte zurangelehnten Tür und schlug sie mit voller Wucht zu. Dann kehrte er mit diabolischem Grinsen zu uns zurück und schien sehr zufrieden mit sich.
    Das war ein Zeichen dafür, dass Krankheit und Behinderung ihn zwar von der Welt und von uns getrennt hatten, sein tiefstes Wesen aber davon unberührt geblieben war. Mit Hilfe von Gesten versuchte er, dem Nichts zu entkommen. Die Krankenschwestern sagten, er sei stur. Doch er wollte sich einfach nicht aufgeben. Solche Orte entmündigen den Menschen unweigerlich, zwingen ihn, sich unterzuordnen, infantil zu werden. Augustyn war eine trotzige Seele, in seinem Leben und in seinem Schreiben. Er tat immer, was er für richtig hielt. Jetzt aß er Trauben und schoss mit den Kernen ins Zimmer, schaute hinter der Brille hervor und wartete darauf, dass einer von uns wie immer sagen würde: »Guścio, mach keinen Dreck.« Später, als wir wegfuhren, sahen wir undeutlich seine Gestalt an der Glastür des Eingangs. Er fuhr mit dem Rollstuhl heran und wartete, bis wir in der stillen Straße mit den einstöckigen Häusern verschwunden waren.
    Alles hatte Mitte der neunziger Jahre begonnen. Ich sah Dutzende Manuskripte für den jährlichen literarischen Wettbewerb der Zeitschrift Czas Kultury durch. Und wie das bei solchen Wettbewerben ist: jede Menge Langweiliges, pubertäre Zerrissenheit, die schlechte, ungerechte Welt, das aufgeblasene Ego des
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